Bonni und Emil nickten. Mart schnarchte bereits in seiner Schlafecke; Fredo schien in Loos Armen in einer anderen Welt zu sein und Loo sowieso; Kairo zeichnete Kohlebilder, doch als die anderen aufstanden und den Grünen Ring öffneten, erhob er sich ebenfalls, um mitzugehen.
Als sie alle im Dunkeln standen, rief Zhang das Arbeitszimmer herbei, und die runde Tür erschien. Das hieß, dass Collonta da war, denn sonst konnte niemand sein Zimmer betreten.
Als die Freunde aus dem Grünen Ring kamen, setzte Collonta eine fröhliche Miene auf. Wie immer war er nicht alleine, sondern in Begleitung von Rupert Fuchspfennig, der für Weihnachten seine abgetragenen Kleider gegen einen grauen Wollanzug getauscht hatte und mehr denn je wie ein Buchhalter aussah. Außerdem waren Laus und eine weitere Frau anwesend, die Tigwid nicht kannte.
»Frohe Weihnachten!«, rief Collonta und schüttelte jedem Neuankömmling die Hand. »Ich wollte gerade gehen und euch holen. Wo sind Mart und Fredo?«
»Fredo ist bei Loo, Mart schläft«, sagte Bonni.
»Ah, ja. Ich glaube, wir sollten Fredo ein wenig mit Loo alleine lassen. Der arme Junge tut mir fast noch mehr leid als Loreley.« Collonta schüttelte betrübt den Kopf. Dann zog er die Augenbrauen hoch und atmete tief durch. »Nun, Julesa war so lieb und hat uns allen Weihnachtspunsch mitgebracht. Darf ich euch einschenken?«
Collonta lief zu einem Bücherregal, zog einen Satz Gedichtbände heraus und holte mehrere Gläser aus einem Geheimfach dahinter.
Die Frau - Julesa - trat nervös einen Schritt vor und zurück. »Äh, ich bin spät dran. Ihr seid nicht böse, wenn ich schon gehe ...«
Collonta kam zum Tisch zurück und goss in jedes Glas Punsch ein. »Jetzt schon?«
»Es ist doch Weihnachten. Und meine Familie ...«
»Stimmt, ich vergaß.« Als ginge Collonta ein Licht auf, deutete er auf Tigwid und überreichte ihm ein Glas. »Natürlich, die liebe Familie. Aber davor muss ich dir unser neuestes Mitglied vorstellen: Tigwid. Tigwid, das ist Julesa Abdahl - keine Sorge, Tigwid kann deinen Nachnamen ruhig erfahren, er gehört zu uns.«
Die Frau strich sich über die dunklen Haare und schien sichtlich beunruhigt. »Nett, dich kennenzulernen. Also dann, bis bald.«
Sie nickte allen noch einmal zu, dann murmelte sie, an Collonta gewandt: »War mir ein Vergnügen.«
Nun geschah etwas sehr Merkwürdiges. Collonta gab Julesa einen Handkuss und sagte ernst: »Danke dir, Julesa.« Die Frau lächelte unsicher. Dann verblasste ihre Gestalt wie ein Geist - und einen Augenblick später war sie verschwunden.
Tigwid spähte nach links und rechts, um sicherzugehen, dass die anderen dasselbe gesehen hatten wie er.
»Julesa ist eine Wandlerin«, erklärte Rupert Fuchspfennig, der Tigwids Verwirrung bemerkte. »Was überdies hervorragend zu ihrer Vorliebe für schnelle Abgänge passt.«
»Nun, Julesa kommt aus einer angesehenen Familie und kann es sich nicht leisten, in eine kompromittierende Lage zu geraten. Wir müssen akzeptieren, dass sie ein Leben neben ihrer Mottenexistenz führt«, sagte Collonta und reichte Fuchspfennig einen Punsch.
Bonni war inzwischen an den Schreibtisch getreten und betrachtete mit gerunzelter Stirn etwas. »Das ist natürlich ein guter Grund, es zu akzeptieren.« Und sie hob zwei Hände voll Dynamitstangen empor.
»Vorsicht!« Fuchspfennig nahm ihr die Stangen wieder aus den Händen und legte sie in eine Holzkiste zurück. Collonta verschloss die Kiste und warf einen Blick in die Runde.
»Seit Magdalenas Tod traut Julesa sich nicht mehr oft, als Geist zu wandern. Ich war vorher bei ihr zu Hause, um das hier abzuholen, und ich sage euch: Da war nichts mehr, nichts, das irgendwie verraten könnte, dass Julesa eine Motte ist. All ihre Bücher sind weg. Es bedeutet sehr viel, dass Julesa uns trotzdem unterstützt und uns das hier hat zukommen lassen«, schloss Collonta ernst. Dann erklärte er Tigwid: »Julesa ist mit dem Besitzer mehrerer Bergwerke verheiratet. Dadurch kann sie uns den Sprengstoff zuschmuggeln.«
»Wozu braucht ihr es?«, fragte Tigwid, der schon bezweifelt hatte, dass das Leuchten in Collontas Augen nur von Punsch und weihnachtlicher Freude herrührte.
»Nun, hauptsächlich zu unserer eigenen Sicherheit natürlich. Selbstschutz ist die beste Waffe gegen die Dichter, denn solange sie uns nicht kriegen, kriegen sie auch nicht unsere Gaben.«
»Außerdem...« Fuchspfennig senkte vertraulich die Stimme. »Wir wissen nicht, wie weit die Dichter gehen wollen. Sie haben die Presse auf ihre Seite gezogen. Sie haben sich die Polizei gefügig gemacht - wir gehen davon aus, dass sie dafür ihre Wahren Worte eingesetzt und den einen oder anderen wichtigen Mann manipuliert haben. Wir müssen davon ausgehen, dass ...« Er stockte.
»Wir müssen davon ausgehen, dass die Dichter die Macht an sich reißen wollen«, schloss Collonta kurz und sachlich. »Wir wissen nicht, wie lange es dauern wird, bis sie alle nötigen Vorkehrungen getroffen haben, aber rasches Handeln ist jetzt nötig, um das Schlimmste - ja, nicht nur das Schlimmste für uns zu verhindern, sondern für die ganze Menschheit.«
Eine Weile schwiegen alle, um das Gesagte zu verdauen. Tigwid beobachtete die anderen: Kairo beäugte Fuchspfennig mit einem ängstlichen Funkeln, was angesichts ihrer gegensätzlichen Statur irgendwie verkehrt schien. Zhang sah Collonta besorgt und erwartungsvoll an. Es war unschwer zu erkennen, dass sie ihm treu ergeben war, egal was er vorschlug. Bonni starrte gedankenverloren auf die Kiste unter Collontas Hand - was sie dachte, war auch offensichtlich. Laus, die ältere Motte, spielte unruhig mit ihren Schals, schien aber gespannt auf Collontas weiteren Vortrag zu warten. Emil hätte Tigwid fast übersehen - er stand im Schatten der anderen und beobachtete sie, genau wie Tigwid.
»Und damit wollt ihr die Dichter jetzt bekämpfen?«, fragte Tigwid in die Stille und wies auf die Dynamitkiste. »Dann würden wir genau das werden, als was die Dichter uns darstellen: gewalttätige Terroristen.«
Zhang zuckte langsam die Schultern. »Wenn die ganze Stadt das ohnehin schon glaubt ...«
»Um eins klarzustellen«, sagte Collonta in einem Ton, der alle aufhorchen ließ. »Wir werden keinem Zivilisten etwas antun, um diesen Kampf zu gewinnen; das überlassen wir den Dichtern und ihren Bränden. Aber wenn die Waffen unserer Feinde Manipulation, Geld und die Unterstützung der Öffentlichkeit sind, können wir ihnen nicht mit bloßer Gutmütigkeit entgegentreten. Sobald die Dichter ihre Motten in die Regierung geschleust haben, ist die Regierung unser Feind. Dann müssen wir zum Risiko bereit sein.« Er klopfte auf die Kiste, langsam, zweimal.
»Und dann?«, fragte Tigwid, als wieder alle schwiegen. »Mal angenommen, wir sprengen wirklich das Parlamentsgebäude mitsamt allen Dichtern in die Luft - tauchen wir einfach unter und verschwinden von der Bildfläche?«
»Wir können nicht einfach alles in Schutt und Asche legen und den anderen unser Chaos hinterlassen«, murmelte Fuchspfennig. Sein Blick flog nervös von Gesicht zu Gesicht. »Es wäre endlich an der Zeit, den Menschen zu geben, was ihnen zusteht, und ...«
Collonta legte Fuchspfennig eine Hand auf die Schulter, um ihm zu bedeuten, dass er weitererklären wollte. Nach einem Moment begann er zu sprechen.
»Vor acht Jahren haben wir vom Treuen Bund versucht, mit der Wahrheit ans Tageslicht zu treten und die Regierung zu übernehmen. Einige Motten jedoch ... wollten weiterhin geheim bleiben. Ihnen gefiel es durchaus, im Verborgenen die Fäden zu ziehen und ihre Gaben allein für ihren eigenen Vorteil zu nutzen. Wir vom Treuen Bund haben erkannt, dass dem nur Einhalt geboten werden kann, wenn unsere Gaben bekannt gemacht werden - und nur noch für das Wohl der Gemeinschaft eingesetzt werden dürfen. Nämlich in der Politik. Wir wussten aber auch, dass es Jahrzehnte dauern würde, um die Menschen von uns zu überzeugen. Darum setzten wir alles auf eine Karte und planten, die schwache Regierung zu ersetzen. Es war alles perfekt geplant. Die friedlichste Machtübernahme in der Geschichte sollte stattfinden, denn wir wollten niemanden umbringen. Doch kurz vor unserer Aktion wurde Magdalena, eines unserer begabtesten Mitglieder, umgebracht. Damit hatten die Motten, die gegen uns waren, den Plan vereitelt. Alles ging schief. Menschen starben. Zuletzt gelang uns zwar die Flucht durch den Grünen Ring, doch drei von uns wurden festgenommen und hingerichtet. Die Verräter waren Nevera, Morbus und seine Anhänger, die sich fortan Dichter nannten. Und nun, nach acht Jahren, sind sie so weit gekommen, dass ihre Machtübernahme kurz bevorsteht. Sie haben Apolonia auf ihrer Seite. Das macht sie zuversichtlich; nun da sie sich sicher sind, dass die Prophezeiung zu ihren Gunsten eintritt, hält sie nichts mehr zurück. Die Einzigen, die sie noch aufhalten könnten, sind wir, Freunde.«