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Die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr schlich unerträglich langsam dahin. Apolonia verließ das Haus kein einziges Mal und saß so lange vor dem Kamin, lag in ihrem Bett, trank Tee und las Bücher, bis sie sich vor Trägheit in Brei zu verwandeln glaubte. Seit jener nächtlichen Unterhaltung mit Tigwid hing eine düstere Wolke über ihr und machte sie schweigsam und grüblerisch. Den Grünen Ring hatte sie Morbus und Nevera gegenüber zwar erwähnt, doch dass Tigwid in ihr Zimmer gekommen war, behielt sie aus gutem Grund für sich. Sie hatte die Möglichkeit gehabt, ein Mitglied des Treuen Bunds unschädlich zu machen. Sie hätte ihn sogar zwingen können, ihr die Funktionsweise dieser merkwürdigen Zaubertür zu erklären und zu verraten, wo sich der TBK versteckte. Wieso hatte sie ihn so leicht davonkommen lassen? Wann immer sie sich diese Frage stellte, wurde sie noch mürrischer und versuchte, an etwas anderes zu denken.

Dass Nevera und Morbus ein Neujahrsfest in Caer Therin planten, kam ihr gerade recht - so konnte sie sich mit Kleiderproben, Einladungskärtchen und der Überwachung der Vorbereitungen ablenken. Nevera hatte gesagt, dass die wichtigsten Leute aus Politik und Gesellschaft anwesend sein würden, und das Fest war die Gelegenheit, ihren Kampf gegen den TBK durch gute Kontakte zu verstärken. Apolonia betrachtete Silvester als öffentlichen Auftritt: Je erwachsener und seriöser sie sich gab, desto glaubwürdiger und einflussreicher würde sie werden.

Manchmal, wenn sie ihre Pläne und Strategien lange mit Nevera oder Morbus besprochen hatte, vergaß sie, wofür sie das alles tat. Dann musste sie sich erst wieder ins Gedächtnis rufen, dass es darum ging, die Menschen vor der Vorherrschaft böser Motten zu bewahren. Und, ganz ursprünglich, dass sie ihre Mutter und ihren Vater hatte rächen wollen.

Ihr Vater ... sie hatte ihn seit drei Wochen nicht mehr gesehen. Es war das erste Mal, dass sie Weihnachten ohne ihn verbracht hatte. Aber das wirklich Schlimme war, dass ihr das erst am Nachmittag darauf bewusst wurde; sie hatte kein einziges Mal an Heiligabend an ihn gedacht. Apolonia war so bestürzt über sich selbst wie an dem Tag, an dem sie sich nicht mehr an das Gesicht ihrer Mutter hatte erinnern können.

Wo, wenn nicht bei den Menschen, die sie lieben sollte, waren ihre Gedanken bloß ...

Neujahr

Die Kutschen und Automobile zogen durch die Dunkelheit wie ein Schweif aus tanzenden Sternen. Schon von Weitem konnte man das Funkeln und Blinken der Lichter sehen, die sich Caer Therin auf der Landstraße näherten. Apolonia, die die lange Karawane vom Balkon des Anwesens aus beobachtete, seufzte tief. Aus der Ferne sah alles immer viel schöner aus.

»Apolonia? Apolonia!« Nevera, die zufällig am Balkon vorbeigelaufen kam, winkte sie herein. »Du erkältest dich ja! Komm sofort her.«

Apolonia gehorchte. Als Nevera die Tür geschlossen hatte, begutachtete sie Apolonia von oben bis unten. Sie trug ein silber- und cremefarbenes Kleid mit aufwendigen Perlenstickereien, und ihre Haare waren zu einem Kranz aufgesteckt. Nevera nickte zufrieden. »Du könntest ein wenig rosiger sein, aber was soll’s. Nun komm, Morbus und die anderen warten unten, um mit uns anzustoßen.«

In dem Saal, in dem das Fest stattfinden sollte, erwarteten sie Morbus, die Dichter und Elias Spiegelgold. Die Männer rauchten Zigarren und nahmen einem wartenden Diener die Sektgläser ab, als Nevera und Apolonia zu ihnen traten. Sie stießen an und tranken. Während die Erwachsenen plauderten, drehte Apolonia ihr Sektglas in der Hand und sah nachdenklich zum beleuchteten Park hinaus, der jenseits der Fensterfronten lag. Das Streichquartett begann zu spielen, und es dauerte nicht lange, bis die ersten Gäste kamen. Freunde der Dichter aus Presse und Kunst trafen auf Bekannte der Spiegelgolds, deren Namen nicht nur in politischen Versammlungen und Gerichtshöfen für Aufhorchen sorgten. Obwohl das Neujahrsfest nicht so groß war wie die Feier zu Neveras achtem Hochzeitstag, war der Saal schon bald mit Frack tragenden Herren und bunt gekleideten Damen überfüllt. Apolonia blieb eine Weile im Kreis der Dichter stehen; dann wurde einer nach dem anderen fortgeschwemmt, von einer Menschentraube zur nächsten, von einem Wangenkuss und leichten Wort zum anderen. Am Ende kam jeder beim Büfett an, wo wieder ein bekanntes Gesicht erspäht und mit mehr Sekt angestoßen wurde. Auf der Tanzfläche amüsierten sich die jüngsten und ältesten Gäste.

Als Apolonia auf die große Wanduhr blickte, war es bereits elf Uhr. Etwas abseits stand Elias Spiegelgold mit seinen Kollegen, am anderen Ende der Halle hielt Nevera Hof, umzingelt von einigen Damen und Dichtern. Apolonia entdeckte auch zwei Journalisten und den Redakteur des Stadtspiegels, die auf dem Weg zum Büfett auf sie zukamen. Mit dem Redakteur hatte sie bereits ein paar Worte gewechselt und war nun in keiner Stimmung, noch ein Gespräch anzufangen. Unbemerkt bewegte sie sich durch die Menge fort.

All die lachenden Menschen kamen ihr plötzlich so leer vor. Unter ihrer Schminke und ihren teuren Kleidern und dem Zigarrenqualm waren sie nackt, gesichts- und geistlos. Bekämpften sie für diese Leute den Treuen Bund? War wirklich alles nur dafür... Bewusst brach Apolonia diese Gedanken ab. Manchmal hatte sie Angst, dass diese verfluchten Zweifel angelesene Gedanken von dem Mädchen Loreley waren.

Wo war eigentlich Morbus? Sie hatte ihn zuletzt mit Nevera tanzen gesehen; danach hatte Elias Spiegelgold ihn abgelöst und war bis jetzt an der Seite seiner Frau geblieben.

Apolonia strich durch den Saal und hielt nach Morbus Ausschau, doch er war nirgends zu entdecken. Sie stellte ihr Glas auf dem Tablett eines Dieners ab und verließ das Fest.

Der fröhliche Lärm klang im Korridor gedämpft. In den Schatten eines Türbogens verbargen sich zwei kichernde Gestalten. Apolonia ging etwas schneller. Dann erspähte sie die Tür zum Esszimmer, die einen Spalt geöffnet war. Mattes Licht fiel in den Korridor hinaus. Langsam schob Apolonia die Tür auf. Ein hohes Feuer flackerte im Kamin, ansonsten war kein Licht im Raum. Neben der Tür zum angrenzenden Salon spielte ein Grammofon einen trägen, schräbbeligen Walzer. Im Sessel vor dem Kamin saß jemand. Apolonia ging um den Tisch herum, um die Person zu sehen, und blieb neben dem Grammofon stehen. Morbus ließ sich nicht anmerken, ob er sie wahrgenommen hatte. In der linken Hand hielt er ein Glas, das bis zum Rand mit Whiskey gefüllt war. Abwesend starrte er in die Flammen.

»Jonathan?«, fragte Apolonia schließlich. »Alles in Ordnung?«

Er reagierte erst nicht; dann prostete er ihr zu und trank. Apolonia beobachtete, wie der Whiskey in seinem Mund verschwand. Er hustete.

»Auf der Flucht vor dem Fest?«, bemerkte Apolonia mit einem kleinen Lächeln.

»Flucht ist gut«, murmelte er und blickte wieder ins Feuer. »Flucht wäre gut... aber letzten Endes können wir nichts an der Jämmerlichkeit unserer eigenen Natur ändern.« Er grinste breit, als hätte er einen ironischen Witz gemacht. Trotzdem schien er gar nicht wirklich mit ihr zu reden. Dann verzerrte sich sein Grinsen zu einem Ausdruck von Abscheu.