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»Wir mögen sie verbergen, hinter klugen Worten, hinter unserer Intelligenz und unserem Glanz und all den oberflächlichen Hüllen der Schönheit. Wir können für Augenblicke vergessen, wie erbärmlich wir und unser ganzes Dahinleben sind. Wir können die Wahrheit schönreden. Sagen, dass die Liebe der Sinn aller Gefühle ist. Aber Liebe ist ein wildes Kraut, das auf dem Misthaufen Gehirnimpuls und Trieb wächst. Liebe!« Er stieß ein Grunzen aus und schwenkte sein Glas Richtung Feuer. Whiskeyspritzer landeten im Kamin und die Flammen fauchten auf. »Jede Hasenmutter empfindet Liebe für ihr Gezücht, daran ist nichts Magisches und schon gar nichts von höherem spirituellen Wert.« Er sank in seinen Sessel zurück, plötzlich sehr erschöpft, fast hilflos. »Wir können verdrängen, wie wenig Kontrolle wir über unser instinktgetriebenes Wesen haben, ja. Sehr gerne. Immer neue, faszinierende, sinnlose Entdeckungen und Beweise unserer Genialität sollen darüber hinwegtäuschen, dass in Wirklichkeit weder Logik noch Verstand bestimmen können, was uns bewegt. Letzten Endes ist die Wahrheit unumstößlich: Wir sind nicht besser und nicht schlechter als ein Hund oder eine Kakerlake. Hast du schon mal einen Hund geschlagen? So, auf den Kopf? Oder eine Kakerlake zertreten, die mit ihren kleinen, kleinen Beinchen vor dir flüchten wollte, mit vergeblicher, panischer, ekelhafter Hektik?«

Apolonia wusste nicht, ob er eine Antwort erwartete, denn er starrte noch immer in die Flammen. Dann legte er eine Hand ans Ohr, als lausche er in den Kamin. Ein Schauder jagte ihr den Rücken hinab. Was tat er da?

»Ach ja, das hast du? Dann kannst du dasselbe auch mit einem Menschen machen. Da ist kein Unterschied. Nur hier und da eine kleine anatomische Differenz.« Er grinste und horchte wieder nach dem Feuer. »Und die Schönheit? Ah, die Schönheit! Nur der Mensch kennt die Vorstellung von Schönheit, das macht ihn also zu etwas Besonderem. So, so.« Er kicherte und trank noch einen Schluck.

»Jonathan ...«, begann Apolonia. Er benahm sich nicht wie ein Betrunkener.

Sein Lächeln fiel ihm von den Lippen. »Aber alle Schönheit auf der Welt ist nur darauf ausgerichtet, unsere widerlichen Instinkte zu erwecken. Etwas anderes würde nie als Schönheit funktionieren! Und die Kunst ...«

Apolonia stand wie festgefroren da. Aus seiner Westentasche zog Morbus eine Pistole und strich geistesabwesend mit dem Lauf über die Armlehne.

»... die Kunst wird am meisten verehrt. Dabei missbraucht sie die höchste Genialität des Menschen dafür, den niedrigsten Trieb zu stimulieren ... Aber deshalb habe ich damals dem Jungen alles genommen. Der Junge war ein guter Versuch.« Noch immer strich er mit dem Revolver über die Armlehne, als streichle er ein Kätzchen.

»Welcher Junge?«, fragte sie stockend.

Morbus wandte ihr das Gesicht zu. Zum ersten Mal schien er sie wirklich anzusehen. Der Pistolenlauf richtete sich auf seine Brust. »Bei ihm ging es mir nicht darum, wahre Gefühle und Erinnerungen zu gewinnen. Ich wollte die ewigen Regeln der Schönheit brechen. Er, der Junge, war mir wichtiger als das Blutbuch, das ich aus ihm schuf. Ich habe all den stinkenden, räudigen Dreck der Natur aus ihm herausgewaschen. Ich wollte einen Menschen schaffen, der keine Gefühle hat. Einen Menschen, der vollkommen leer ist und rein wie ein unbeschriftetes Blatt Papier. Er - er ist ein höheres Wesen, dieser kleine Rotzbengel. Er ist uns allen überlegen, denn er ist an nichts gebunden und kennt kein Diktat der Natur, das sein Hirn in Ketten legt. Ich habe den ersten unschuldigen Menschen der Welt geschaffen.«

Apolonia starrte ihn an. Er rieb sich mit der Pistole die Schläfe. »Und dabei hat sich herausgestellt, dass er ohne den Dreck nicht sterben kann und kein echter Mensch mehr ist! Das heißt, das Einzige, was uns zu Menschen macht, ist ebendieser widerliche Dreck. Keine Intelligenz. Keine sagenhafte Verbindung zu Gott und der Herrlichkeit. Jeder idiotische Geisteskranke und jeder boshafte Mörder ist mehr ein Mensch als der unschuldige, reine Junge Marinus. Ernüchternde Feststellung, nicht wahr?«

Bebend erwiderte Apolonia: »Ich dachte, wir... schreiben die Blutbücher nur wegen des Treuen Bunds. Um ihn auszuschalten.«

Ein Lächeln flog über sein Gesicht, flüchtig wie ein Lichtstrahl, und der Lauf der Waffe glitt wieder zu seinem Herzen hinab. »Es geht um die Unschuld. Ach, immer geht es um die Unschuld! Der einzige Traum, der hinter allen, allen Menschenträumen steckt! Hast du das nicht begriffen? All das menschliche Ungeziefer... wir reinigen sie von der Jämmerlichkeit ihrer Menschenexistenz, machen sie unschuldig. Und die Exkremente, die dabei hervorgehen - ja, die empfinden wir als so lieblich und schön, dass wir sie lieben wie uns selbst.«

»Aber es geht doch um die Mottengaben«, beharrte Apolonia. »Es geht in erster Linie um die Mottengaben. Nicht wahr?«

Morbus kippte sich den Rest des Whiskeys in den Mund und warf das Glas nach dem Grammofon. Scherben klirrten, die Schallplatte brach und der Walzer verstummte. Apolonia zuckte vor Schreck zusammen, doch Morbus lehnte sich so entspannt zurück, als höre er erst jetzt süße Musik.

»Ah, Frédéric Chopin. Wunderschöner Dreck. Bitte lass mich alleine«, sagte er sanft. »Ich ertrage die Emotionalität in deiner Stimme nicht.« Seine Arme glitten schlaff von den Lehnen, seine Faust öffnete sich und die Pistole fiel zu Boden. Einen Moment stand Apolonia da, ohne sich regen zu können. Dann trat sie rasch näher, hob die Pistole auf und ging aus dem Zimmer. Erst als sie die Tür hinter sich geschlossen und den Korridor zur Hälfte hinter sich gebracht hatte, begann sie zu laufen.

Inzwischen hatten sich die Gäste auf der Terrasse versammelt, um das Feuerwerk zu sehen. Ein Diener reichte Apolonia ihren Mantel, als sie nach draußen wollte, und sie ließ die Pistole unauffällig in die Tasche gleiten. Sie musste unbedingt mit Nevera sprechen. Ob sie wusste, dass Morbus dabei war, den Verstand zu verlieren?

Verstört drängte sich Apolonia durch die Menge und umschiffte Diener mit Häppchen und Champagner. Erinnerungen an ihren Vater durchzuckten sie. Am Abend vor dem Brand hatte sie mit ihm gegessen und normal gesprochen, am nächsten Morgen, läppische zehn Stunden später, war er verrückt gewesen. Sie hatte ihn in den Minuten verloren, in denen sie friedlich in ihrem Bett geschlafen hatte. Was, wenn Morbus wie er... Was, wenn der TBK dahintersteckte? Vielleicht hatten sie nicht nur den Brand gelegt, sondern auch noch mit Mottengaben nachgeholfen, um den Geist ihres Vaters für immer zu zerrütten. Und wenn sie dasselbe mit Morbus gemacht hatten?

Apolonia fühlte sich trotz der winterlichen Kälte fiebrig. Wo war Nevera? Rings um sie begannen die Leute, die letzten Sekunden vor dem neuen Jahr zu zählen.

Zehn!

Neun!

Acht!

»Nevera!«, rief Apolonia, als sie ihre Tante und ihren Onkel von Bekannten umringt entdeckte. Sie drängte sich zu ihnen vor.

Vier!

Drei!

Zwei!

Eins!

Die Raketen zischten los und plötzlich war der Himmel in gleißendes Licht getaucht. Donner erscholl und die Menschen jubelten. Im Gewitter der Feuerwerke erspähte Nevera Apolonia endlich, zog sie zu sich heran und gab ihr zwei Wangenküsse. »Alles Gute im neuen Jahr!«

»Danke, dir auch ...«

»Alles Gute«, sagte Elias Spiegelgold und küsste Apolonia links und rechts.

»Wo ist Jonathan?«, fragte Nevera und sah sich nach allen Seiten um.

»Ich muss mit Ihnen sprechen ...«, begann Apolonia, doch schon hatte Nevera sich umgedreht und tauschte Glückwünsche mit ihren Freunden aus. Unruhig wandte Apolonia sich zum Feuerwerk. Funken rieselten aus der Dunkelheit und beleuchteten das Anwesen wie silberne Tränen, die in ein Meer aus Tinte fallen. Flüchtig umzeichnete die zitternde Helligkeit die Bäume und ließ sie wieder verschwinden. Und da - da glaubte Apolonia eine Gestalt zu sehen. Sie stand am Rand des Wäldchens und blickte zum Fest herüber. Im nächsten Moment war sie wieder fort.