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Apolonia machte die Augen schmal. Konnte es sein? Mit stockenden Schritten ging sie an den Rand der Terrasse. Eine Weile beobachtete sie den Waldrand, doch es ließ sich nichts Ungewöhnliches feststellen. Dann gab sie sich einen Ruck und fasste Mut. Die fröhliche Menge blieb hinter ihr zurück, als sie die steinernen Treppen zum Garten hinabstieg. Der Wald zuckte im bunten Lichterglanz. Es war ganz offensichtlich. Und wenn schon nicht Apolonias Verstand ihr sagte, dass die Motten des Treuen Bunds hier waren und etwas mit Morbus angestellt hatten, so sagte es ihr ihre Intuition.

Während sie durch die dünne Schneedecke auf die Bäume zuging, zog sie unauffällig die Pistole aus der Manteltasche. Nur für den Fall, dass ihre Mottengaben nicht ausreichten.

Im Wald war es stockfinster. Für Sekunden sah Apolonia die Tannen und Fichten in gleißendes Feuerwerksgrün getaucht, dann wieder war alles schwarz. Vorsichtig ging sie weiter. Schneekrusten knirschten unter ihren feinen Schuhen. Wieder donnerte es, ein Regen aus Lichtern schwebte vom Himmel. Apolonia sah auf. Die Kronen der Bäume wiegten sich im leichten Nachtwind, als wollten sie sich zu ihr herabbeugen und sie verschlingen. Ein Zweig brach. Apolonia drehte sich um. Im rasch verblassenden Feuerwerk sah sie Vampa zwischen den Fichten hervortreten.

Das Haar hing ihm wirrer denn je ins Gesicht. Seine Kleider waren zerrissen. Weiß wie der Schnee waren sein Gesicht und seine Fäuste, schwarz wie der Wald seine Augen. Apolonia wollte instinktiv einen Schritt zurückgehen, doch sie zwang sich, fest stehen zu bleiben. Wie in einem Traum nahm sie wahr, dass sie die Pistole auf ihn richtete.

Vampa regte sich nicht. Er schien die Waffe gar nicht zu bemerken und starrte nur Apolonia an.

»Wo sind die anderen?«, fragte sie und warf einen Blick nach links und rechts. Nichts, sie konnte nichts erkennen. »Wie viele sind hier? Antworte!«

Er holte zitternd Luft und machte einen Schritt auf sie zu. »Ich ... das Licht auf deinen Haaren... du bist schön.« Er streckte die Hand aus und schien ihr Gesicht in der Luft mit den Fingern zu umfahren. »Ich weiß es. Ich, ich kann es sehen. Ich kann’s fühlen, Apolonia! Du - du bist schön.« Er kam noch einen Schritt auf sie zu, tapsig wie ein Schlafwandler, dann noch einen.

Apolonias Hände bebten, als sie die Pistole entsicherte. »Bleib stehen«, befahl sie schrill.

Vampa legte leicht den Kopf schief, als verstünde er nicht, was die Waffe sollte. »Ich kann nicht sterben.«

»Aber du hast Schmerzen! Du wirst dir wünschen, du könntest sterben, wenn du noch näher kommst. Ich werde dir die Augen herausschießen und -«

»O Gott, Apolonia«, flüsterte er und keuchte, als hätte er tatsächlich Schmerzen. »Wenn du mich so ansiehst ... verstehst du nicht, dass ich es jetzt fühlen kann?«

»Bleib weg!«, schrie sie.

»Hab keine Angst vor mir! Ich könnte dir niemals wehtun. Ich fühle ... ich liebe ...«

»Aber du bist tot!«

Er blieb stehen. Die letzte Rakete sauste in der Ferne in den Himmel und zersprang mit glitzernden Tentakeln. Ihr Licht ließ die Tränen in Vampas Augen glänzen. »Nicht nur ich bin tot. Viele ... viele Menschen sind tot, aber sie wissen es nicht. Ich bin kein Mensch, und doch weiß ich jetzt, was Liebe bedeutet. Und du? Du hast Angst davor. Du verschließt dein Herz aus Angst, jemand könnte es berühren.« Er schloss die Hände zu Fäusten und keuchte. Seine Stimme war nicht mehr leer. Nicht tot. Sie war voller Verzweiflung. Und das erste Mal seit neun Jahren - vielleicht das erste Mal überhaupt - war seine Stimme wunderschön. »Mein Leben ist in einem Buch gefangen, aber es gibt Menschen, die sperren das Leben freiwillig aus ihrem Herzen - ich bin nicht der Einzige! Es gibt viele lebende Tote, du siehst sie jeden Tag, überall. Ich sehe sie.« Stockend kam er näher. »Ich sehe dich ...«

Apolonia hatte nicht gemerkt, dass sie wie festgefroren dastand, bis er auf sie zukam. Dann tat sie etwas, das sie erst begriff, als sie es getan hatte: Sie hob die Pistole und hielt sich den Lauf an die Schläfe. Vampas Augen weiteten sich vor Schreck.

»Du meinst, ich bin wie du«, sagte sie schwankend. »Dann finde doch heraus, ob ich ein lebender Toter bin.«

Er regte sich nicht.

»Du bist festgenommen«, sagte Apolonia. »Und du wirst mich zum Treuen Bund führen.«

Manche Gäste stießen erschrockene Schreie aus, als Apolonia mit Vampa vor dem Pistolenlauf auftauchte. Eine Dame ließ ihr Champagnerglas fallen, und ein Mann hielt den Lärm für einen Schuss, woraufhin auf der linken Seite der Terrasse Tumult ausbrach. Einer der geladenen Journalisten hatte seinen Block und Stift gezückt und schrieb, ohne den Blick von Apolonia und ihrem Gefangenen zu wenden.

»Keine Panik«, rief Apolonia. Ihre Stimme klang sehr viel gefasster, als sie sich fühlte. Die Menge machte ihr Platz, als sie Vampa ins Haus führte. Nevera und Elias Spiegelgold kamen auf sie zu.

»Der Junge!«, zischte Nevera und sah sich blinzelnd in alle Richtungen um.

»Er wird uns zum Versteck des Treuen Bunds führen«, sagte Apolonia. »Ruft die Polizei, sie sollen einen Trupp bereitstellen und uns in der Stadt erwarten. Wir brauchen ein Automobil und einen Fahrer!«

»Wir nehmen den Wagen von Jacobar«, sagte Nevera. »Wo ist Morbus?«

Sie hatten die Eingangshalle erreicht. Hier waren sie außer Sicht- und Hörweite der Gäste. Mit unverhohlener Abscheu betrachtete Nevera Vampa.

»Treib ein Seil auf, damit wir ihn fesseln können«, befahl sie Elias. »Ich gehe und suche Jonathan.«

»Nein«, sagte Apolonia. »Er ist... es geht ihm nicht gut. Ich glaube, Vampa ist eingebrochen und hat ihm etwas angetan, ich weiß nicht, was. Er hat merkwürdige Dinge gesagt. Er sollte hierbleiben.«

Ein kaltes Leuchten lag in Neveras Augen. Dann nahm sie Apolonia die Pistole aus der Hand und schlug Vampa mit aller Macht auf den Kopf. Er sackte in die Knie.

»Wa- nicht!«, rief Apolonia erschrocken. »Er muss uns doch den Weg zeigen!«

»Er ist nicht bewusstlos.« Nevera ließ die Pistole wieder in Apolonias Hand fallen. »Wenn er wieder ganz bei sich ist, verpass ihm noch einen Schlag. Bis wir in der Stadt ankommen, brauchen wir ihn nicht bei Bewusstsein.« Sie schnippte mit den Fingern und bedeutete einem Diener, er solle sich um Vampa kümmern. »Trag ihn in Jacobars Wagen. Apolonia, bewache ihn. Jonathan und ich kommen nach.«

Damit lief sie in den Gang zurück. Nach kurzem Zögern folgte Elias ihr.

Apolonia umklammerte mit heißen Fingern die Waffe, während der Diener Vampa hochzog und ihm hinaushalf. Als er auf der Rückbank des Automobils lag, sperrte Apolonia die Türen ab und befahl dem Diener, Wache zu halten. Dann lief sie zurück ins Haus. Morbus durfte in seinem jetzigen Zustand nicht mitkommen. Vielleicht würde der entscheidende Kampf, der nun bevorstand, nur bewirken, dass er so verwirrt blieb ... Sie rannte in den Flur. In einem nahen Zimmer hörte sie jemanden streiten.

»Ich lasse das nicht länger zu!«, rief eine männliche Stimme - die Stimme von Elias Spiegelgold. »Sieh mich an! Hör auf damit - ich lasse nicht mehr zu, dass du ...«

Apolonia blieb vor der offenen Tür stehen. Nevera, die gerade in ihrer Tasche gewühlt hatte, wandte sich zu Elias um und hielt ihm ein Papier vors Gesicht. Augenblicklich verstummte er. Ausdruckslos sah er das Papier an, als wäre er mit offenen Augen eingeschlafen.

»Sei schön brav«, flüsterte Nevera. »Nichts, was ich tue, soll angezweifelt werden.«