Der Raum selbst war größer und das Mobiliar bequemer, aber in den Strukturen waren keine Nahtstellen sichtbar. Es war, als ob jeder einzelne Gegenstand aus einem Stück gefertigt worden wäre. Alle Türen, Schubladen und Halterungen der Kopien funktionierten einwandfrei, was die Originale nie getan hatten, und auch die Luft roch anders — eigentlich roch sie nach gar nichts.
Allmählich wurde ihre anfängliche Freude und Erleichterung von der Erkenntnis überschattet, daß dies nichts weiter als eine kleine, vertraute Insel der Normalität inmitten eines unermeßlich weiten, fremden und furchtbar unübersichtlichen Ozeans war. Die Ängste und Sorgen, die allmählich in ihr aufstiegen, waren größer, als sie sie jemals auf ihrem unvorstellbar weit entfernten Heimatplaneten erlebt hatte, und brachten zudem ein ständig wachsendes und so überwältigendes Gefühl der Einsamkeit mit sich, daß sie es wie einen unbändigen körperlichen Hunger empfand.
Aber auf dem fernen Sommaradva war sie weder beliebt noch erwünscht, und hier im Hospital hatte man wenigstens wirklich etwas getan, um sie willkommen zu heißen, und zwar so viel, daß sie schon deshalb in diesem schrecklichen Gebäude bleiben mußte, um den dadurch entstandenen Verpflichtungen nachzukommen. Außerdem wollte sie alles daran setzen, soviel zu lernen, wie sie nur konnte, bevor die Herrscher des Hospitals sie für ungeeignet halten und nach Hause schicken würden.
Am besten sollte sie sofort mit dem Lernen anfangen.
Ist der Hunger womöglich gar nicht eingebildet, sondern wirklich? fragte sich Cha Thrat. Beim vorhergehenden Besuch der Kantine hatte sie sich nicht satt essen können, weil sie mit den Gedanken ganz woanders gewesen war. Sie machte sich daran, im voraus den Weg von ihrem gegenwärtigen Standpunkt zur Kantine und zum Ort ihrer ersten Unterrichtsstunde am nächsten Morgen festzulegen. Aber im Moment hatte sie keine Lust auf einen erneuten Gang durch die von sonderbaren Wesen bevölkerten Korridore des Hospitals. Erstens war sie sehr müde, und zweitens befand sich für Auszubildende, die das Lernen nicht durch einen Kantinenbesuch unterbrechen wollten, ein Essensspender mit eingeschränktem Menüangebot im Raum.
Sie sah in der Liste der für ihren Metabolismus geeigneten Speisen nach und bestellte mittlere bis große Portionen. Als sich schließlich bei ihr ein angenehmes Völlegefühl einstellte, versuchte sie zu schlafen.
Ihr Zimmer und auch der Korridor davor waren voll von leisen, unbekannten Geräuschen, und ihr derzeitiges Wissen reichte nicht aus, um diese einfach zu überhören. Der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Allmählich bekam sie wieder Angst und fragte sich, ob ihre Gedanken und Empfindungen von jener Art waren, die das Interesse des Zauberers O'Mara wecken könnte, und dadurch fürchtete sie noch mehr um ihre Zukunft im Orbit Hospital. Während sie dennoch ruhig dalag, wenn auch nicht in geistig-seelischer, sondern nur in körperlicher Hinsicht, schaltete sie den Kommunikator auf die mögliche Deckenprojektion ein, um zu sehen, was es auf den Unterhaltungs- und Schulungskanälen gab.
Dem entsprechenden Informationsblatt zufolge wurden auf zehn Kanälen ununterbrochen einige der in der Galaktischen Föderation beliebtesten Unterhaltungssendungen, die aktuellsten Tagesereignisse und Spielfilme gebracht, auf Wunsch in einer durch den Translator synchronisierten Fassung. Doch Cha Thrat stellte fest, daß sie zwar die Worte verstehen konnte, die die Aliens verschiedener physiologischer Klassen zu- und übereinander sagten, die gleichzeitig ablaufenden Handlungen aber für sommaradvanische Augen abwechselnd widerwärtig, rätselhaft, albern oder geradezu obszön waren. Deshalb schaltete sie lieber auf die Schulungskanäle um.
Dort hatte sie die Wahl, sich Diagramme mit momentan noch sinnlosen Zahlen und Tabellen über die Körpertemperatur, den Blutdruck und den Puls von mehr als sechzig verschiedenen Lebensformen oder Direktübertragungen von Operationen anzuschauen, deren Bilder beunruhigend wirkten und nicht gerade dazu bestimmt waren, irgend jemanden gemütlich in den Schlaf zu wiegen.
Also probierte Cha Thrat verzweifelt die reinen Tonkanäle aus. Aber die Musik, die ihr dabei zu Ohren kam, klang, selbst wenn sie die Lautstärke fast bis zur Hörschwelle absenkte, als würde sie von einer nicht richtig funktionierenden Maschine in einem Stahlwerk hervorgerufen. Deshalb war es für sie eine um so größere Überraschung, als sie irgendwann vom Wecker im Zimmer mit einem monotonen Klang, aber sich ständig steigernder Lautstärke daran erinnert wurde, daß es an der Zeit war aufzustehen, falls sie vor ihrer ersten Unterrichtsstunde noch frühstücken wollte.
4. Kapitel
Der Ausbilder war ein Nidianer, der sich als Chefarzt Cresk-Sar vorgestellt hatte. Beim Sprechen schritt er vor der Reihe der Auszubildenden wie ein kleines, stark behaartes, fleischfressendes Tier auf und ab und kam deshalb andauernd so nahe an Cha Thrat vorbei, daß sie am liebsten abwehrend die Gliedmaßen gekreuzt hätte oder weggelaufen wäre.
„Um beim Zusammentreffen mit Lebewesen anderer Spezies sprachliche Mißverständnisse auf ein Minimum zu reduzieren und um zu vermeiden, unbeabsichtigt anzuecken, ist es unabdingbar, daß alle Mitglieder des Arzt- und Hilfspersonals, auch wenn sie nicht der eigenen Spezies angehören, als Individuen mit eigenen Gefühlen, Sehnsüchten und Ängsten respektiert werden“, erklärte der Nidianer. „Ob Sie nun jemanden direkt ansprechen oder sich in seiner Abwesenheit über ihn unterhalten, Sie werden Ihre Mitarbeiter immer siezen und den entsprechenden Namen gebrauchen. Diese Regel gilt natürlich nicht für den Freundeskreis, private Beziehungen und dergleichen.
Ich bin ein männlicher DBDG von Nidia, aber stellen Sie sich mich bitte niemals als „nidianischen Rotpelz“ oder als „kleines, behaartes Tier“ vor, sondern immer als Cresk-Sar.“
Als sich der abstoßende, stark behaarte Körper Cha Thrat erneut bis auf wenige Schritte näherte, bevor er wieder in die entgegengesetzte Richtung davonschritt, dachte sie, daß sie einige Schwierigkeiten haben würde, den Chefarzt in Gedanken nicht als stark behaarten Fleischfresser zu bezeichnen.
Um jemanden zu finden, der auf sie einen etwas weniger abstoßenden Eindruck machte, richtete sie die Augen auf die neben ihr stehende Schwesternschülerin, die zu den drei am Unterricht teilnehmenden Kelgianerinnen mit silbernem Fell gehörte. Sie empfand es als äußerst merkwürdig, wie ihr innerlich vor der Behaarung des Nidianers schauderte,
während der gleichermaßen fremdartige Pelz der Kelgianerin so beruhigend und entspannend wie ein großes Kunstwerk auf sie wirkte. Das Fell befand sich in ständiger Bewegung, breite Kräuselungen, die gelegentlich von Strudeln und kleinen Wellen durchkreuzt wurden, verliefen langsam vom kegelförmigen Kopf bis zum Schwanz hinab, als ob der unglaublich feine Pelz eine Flüssigkeit wäre, die von einem nicht spürbaren Wind aufgewühlt wurde. Zuerst hielt Cha Thrat diese Bewegungsmuster für zufällig, doch je genauer sie hinsah, desto deutlicher schien sich in den Kräuselungen und Strudeln ein Schema herauszubilden.
„Was starren Sie mich denn so an?“ wollte die Kelgianerin plötzlich wissen, wobei die vom Translator übersetzten Worte von den stöhnenden, und zischenden Lauten ihrer Muttersprache untermalt wurden. „Habe ich irgendwo eine kahle Stelle, oder was?“
„Tut mir leid, ich wollte Sie nicht beleidigen“, entschuldigte sich Cha Thrat. „Ihr Fell ist wirklich wunderschön, und die Art, wie es sich bewegt, fasziniert mich einfach.“
„He, Sie da! Passen Sie gefälligst auf!“ ermahnte Cresk-Sar die beiden in scharfem Ton. Er kam näher, sah sie beide abwechselnd an und schritt die Reihe dann wieder in der anderen Richtung ab.