Der Fortschritt ist bei jeder intelligenten Spezies von der verstärkten Zusammenarbeit zwischen Einzelwesen, Familien oder Stämmen abhängig. Auf Goglesk hatte jedoch schon immer jeder enge Kooperationsversuch einen starken Rückgang des Verständnisses, blinde Zerstörungswut und ernste körperliche Verletzungen zur Folge gehabt, so daß sich die Gogleskaner gezwungenermaßen zu einer Spezies von Individualisten entwickelt hatten, die nur für die Dauer des kurzen Fortpflanzungsprozesses oder der Betreuung der Kleinkinder miteinander engen Körperkontakt hatten.
Das Problem war aufgrund einer Lösung entstanden, die sich den Gogleskanern vor der Entwicklung von Intelligenz aufgedrängt hatte. Damals waren sie die Beute sämtlicher Raubtiere gewesen, von denen es in den gogleskanischen Meeren wimmelte, hatten aber selbst ebenfalls natürliche Angriffs- und Verteidigungswaffen entwickelt: Stacheln, die kleinere Lebensformen lähmten oder töteten, und lange Fühler auf dem Kopf, mit denen sie durch Berührung telepathischen Kontakt herstellen konnten. Wurden sie von großen Raubtieren bedroht, schlossen sie ihre Körper und Gehirne zusammen, bis sie die erforderliche Größe hatten, um mit ihren vereinten Stacheln jeden Angreifer zu töten.
Nach fossilen Funden auf Goglesk zu urteilen, hatte es einen gigantischen Überlebenskampf zwischen den FOKTs und einer Spezies riesiger und besonders wilder Meeresraubtiere gegeben, eine Schlacht, die viele, viele tausend Jahre gewütet hatte. Den Sieg trugen am Ende die FOKTs davon, die sich danach zu intelligenten Landbewohnern entwickelten. Aber der Preis, den sie zu zahlen hatten, war furchtbar.
Um eins der gewaltigen Raubtiere zu Tode zu stechen, hatten sich Hunderte von einzelnen FOKTs körperlich und telepathisch zusammenschließen müssen. Bei jeder derartigen Begegnung waren sehr viele von ihnen umgekommen, zerrissen oder gefressen worden, und den sich daraus ergebenden Todeskampf, der sich bei jedem Sterbenden wiederholte, nahm aufgrund der telepathischen Verbindung jedes einzelne Mitglied der Gruppen am eigenen Leibe wahr. In dem Bestreben, ihr Leiden zu verringern, hatten die FOKTs die Wirkung der telepathischen Kräfte in der Gruppe durch die Entwicklung blinder Zerstörungswut abgeschwächt, die sich unterschiedslos gegen alles richtete, was sich in ihrer Nähe befand. Doch selbst so waren ihre in der Vorgeschichte erhaltenen seelischen Wunden nicht verheilt.
Der von einem Gogleskaner in Not ausgestoßene Ruf, der einen solchen Gruppenzusammenschluß einleitete, konnte, wenn er erst einmal gehört worden war, weder bewußt noch unterbewußt verdrängt werden, da dieser Schrei nur eins bedeutete: die Bedrohung durch äußerste Gefahr. Das war selbst in der heutigen Zeit, wo derartige Bedrohungen nur eingebildet oder unbedeutend waren, nicht anders. Der Zusammenschluß führte zwangsläufig zur blinden Zerstörung von allem, was sich in ihrer unmittelbaren Nähe befand und die FOKTs als Individuen hatten bauen, schreiben oder schaffen können: Häuser, Fahrzeuge, technische Anlagen, Bücher oder Kunstobjekte.
Aus diesem Grund erlaubten es die heutigen Gogleskaner, mit Ausnahme einiger sehr seltener Fälle, niemandem, sie zu berühren, sich ihnen zu nähern oder sie auch nur ansatzweise mit persönlichen Worten anzusprechen,
während sie hilflos und — bis ihnen Conway vor kurzem einen Besuch auf ihrem Planeten abgestattet hatte — hoffnungslos gegen die ihnen von der Evolution aufgezwungenen Lebensbedingungen ankämpften.
Cha Thrat war klar, daß sich das medizinische Team ausschließlich über die Probleme der Gogleskaner im allgemeinen und die von Khone im besonderen unterhalten wollte, und über diese Themen entwickelten sich dann auch endlose Gespräche, die zu nichts anderem führten als stets wieder zum Ausgangspunkt zurück. Eigentlich hatte Cha Thrat mehrmals Vorschläge machen oder Fragen stellen wollen. Aber schon bald stellte sie fest, daß, wenn sie einfach den Mund hielt und geduldig abwartete — ein Verhalten, das ihrem Naturell schon immer widersprochen hatte —, dieselben Vorschläge und Fragen, die ihr unter den Nägeln brannten, von einem Mitglied des Teams unterbreitet beziehungsweise beantwortet wurden.
Normalerweise war es Naydrad, die solche Fragen stellte, wenn auch viel weniger höflich, als es Cha Thrat getan hätte.
„Conway hätte mitkommen sollen“, sagte die Kelgianerin, deren Fell sich mißbilligend kräuselte. „Er hat es der Patientin versprochen, und dafür gibt es keine Ausflüchte!“
Das rosagelbe Gesicht der Pathologin Murchison wurde dunkler. An der Decke zitterten Priliclas schimmernde Flügel als Reaktion auf die unter ihm ausgestrahlten Emotionen, aber weder der Empath noch die Terrestrierin sagten ein Wort.
„Ich nehme an, daß es Conway durch die unbeabsichtigte, gefährliche und beispiellose Geistesverschmelzung gelungen ist, die geistig-seelische Ausrichtung dieser Gogleskanerin zu durchbrechen“, unterbrach Danalta das entstandene Schweigen. „Aus diesem Grund ist er auch das einzige Wesen einer anderen Spezies, das Aussichten hat, sich der Patientin bis zumindest auf geringen Abstand zu nähern, selbst wenn er sie vor oder während der Geburt wohl kaum berühren darf. Obwohl wir viel früher als erwartet gerufen worden sind, muß es doch im Hospital noch viele andere geben, die fähig und willens sind, für die paar Tage, die für den Flug erforderlich sind, Conways Aufgaben zu übernehmen.
Jedenfalls finde ich auch, daß Conway uns hätte begleiten sollen“, schloß der Gestaltwandler. „Schließlich ist Khone seine Freundin, und er hat es ihr versprochen.“
Während Danaltas Ausführungen hatte Murchisons Gesicht bis auf weiße Flecken rund um die Lippen den dunkelrosa Farbton beibehalten, und an Priliclas Zittern war deutlich abzulesen, daß die emotionale Ausstrahlung der Pathologin für den Empathen alles andere als angenehm war.
„Ich stimme Ihnen ja grundsätzlich zu, daß niemand unentbehrlich ist, nicht einmal der leitende Diagnostiker der Chirurgie“, räumte Murchison in einem Ton ein, der das Gegenteil zu verstehen gab. „Ich will Conway auch gar nicht verteidigen, nur weil er zufällig mein Lebensgefährte ist. Er könnte eine ganze Menge Chefärzte, die in der Lage sind, seine Arbeit zu verrichten, um Hilfe bitten. Aber das geht eben nicht innerhalb weniger Minuten oder Stunden und vor allem nicht, solange er mitten in einer Operation steckt. Außerdem hätte allein die Einweisung in seinen Operationsplan Zeit gekostet, wenigstens noch mal zwei Stunden. Der Funkspruch der Gogleskaner hatte den Zusatz äußerst dringende. Also mußten wir sofort aufbrechen, auch ohne Conway.“
Danalta entgegnete nichts, doch Naydrads Fell schlug unzufriedene Wellen. „Ist das die einzige Entschuldigung, die Conway Ihnen für den Bruch seines Versprechens der Patientin gegenüber gegeben hat?“ wollte die Kelgianerin wissen. „Wenn ja, ist das vollkommen unbefriedigend. Wir haben doch schon alle unsere Erfahrungen mit plötzlichen Notfällen gemacht und wissen, daß die Übernahme einer Arbeit durch andere auch ohne ausführliche Einweisungen und auch ohne jede Vorwarnung erforderlich sein kann. Mit seiner Entscheidung legt Conway gegenüber seiner Patientin eine unglaubliche Rücksichtslosigkeit an den Tag und.“
„Gegenüber welcher Patientin?“ fiel Murchison der DBLF verärgert ins Wort. „Gegenüber Khone oder dem Wesen, das er im Moment operiert? Und falls Sie es vergessen haben sollten, ergibt sich ein Notfall nun einmal unerwartet oder weil eine Situation versehentlich außer Kontrolle geraten ist. Vor allem sollte er nicht absichtlich herbeigeführt werden, nur weil sich jemand moralisch verpflichtet fühlt, woanders zu sein.
Jedenfalls hat Conway mitten in einer Operation gesteckt und nur Zeit für ein paar Worte gehabt“, fuhr sie fort, „und die lauteten, wir sollten sofort ohne ihn losfliegen und uns keine Sorgen machen.“
„Dann wollen Sie also tatsächlich das Fehlverhalten Ihres Lebensgefährten entschuldigen? Nach meiner Meinung.“, setzte Naydrad an, wurde jedoch von Prilicla, der sich zum erstenmal einmischte, unterbrochen.