„Das stimmt, aber beeilen Sie sich!“ ermahnte Prilicla sie.
Unglaublicherweise war es ausgerechnet ihre Gehirnpartnerin, die das meiste tat, um diesen Vorgang voranzutreiben. Genau wie der Rest ihrer leidgeprüften und von Alpträumen geplagten Spezies hatte Khone gelernt, ihre Gedanken, Gefühle und natürlichen Bedürfnisse zu kontrollieren und zu entflechten, damit die erzwungene Einsamkeit, die zur Vermeidung eines Zusammenschlusses notwendig war, nicht nur erträglich, sondern ab und zu sogar erfreulich wurde. Und jetzt drängten sich in Cha Thrats Gedächtnis Conways Erinnerungen an das Orbit Hospital und einige seiner abstoßenden Patienten in den Vordergrund.
Sie müssen eine Auswahl treffen, sagte ihr Khone. Lassen Sie nur die Gedanken zu, die nützlich sind.
Sämtliche Erinnerungen und Erfahrungen einer sommaradvanischen Chirurgin für Krieger, einer gogleskanischen Ärztin und des halben, am Orbit Hospital verbrachten Lebens eines Terrestriers standen Cha Thrat zur Verfügung, und mit dieser ungeheuren Menge medizinischer und physiologischer Fachkenntnisse über fremde Spezies im Kopf konnte sie nicht glauben, daß Khone selbst in diesem fortgeschrittenen Stadium ein hoffnungsloser Fall war. Da dämmerte von irgendwoher aus diesem gewaltigen und äußerst vielseitigen Wissensschatz der erste Schimmer einer Idee hindurch, die allmählich Gestalt annahm.
„Ich glaube nicht mehr, daß ein operativer Eingriff die Lösung ist, auch nicht als letzter Ausweg“, sagte Cha Thrat in entschiedenem Ton. „Den würde die Patientin höchstwahrscheinlich nicht überleben.“
„Für wen hält die sich eigentlich, verdammt noch mal!“ fluchte Murchison verärgert. „Wer trägt denn hier die Verantwortung für die Operation? Prilicla, waschen Sie der mal den Kopf!“
Cha Thrat hätte zwar beide Fragen beantworten können, verzichtete aber lieber darauf. Sie wußte, daß die Formulierung und der Ton ihrer Entgegnung nicht ihrer rangniedrigen Stellung angemessen gewesen wäre: Sie hätte viel zu selbstbewußt und bestimmt geklungen, doch war weder genügend Zeit für lange Erklärungen noch für falsche Bescheidenheit, und es wäre besser, wenn sie die wahren Gründe nie erklären würde. Mit etwas Glück würde Pathologin Murchison jetzt und in Zukunft glauben, Cha Thrat sei eine selbstgefällige Wartungstechnikerin und von Größenwahn befallene ehemalige Schwesternschülerin.
Vorläufig hatte der Teamleiter anscheinend nicht vor, ihr den Kopf zu waschen, denn er sagte nur: „Erklären Sie das genauer, Cha Thrat.“
Rasch überprüfte Cha Thrat das augenblickliche Krankheitsbild, das sich jetzt durch die starke körperliche Entkräftung, die sogar bei einem gesunden Gogleskaner auf einen Zusammenschluß folgte, weiter verschlechtert hatte. Als sie erklärte, Khone verfüge nicht über ausreichende Kraftreserven, um eine umfangreichere Operation zu überstehen — man müßte nämlich eher einen Kaiserschnitt als eine bloße Vergrößerung des Gebärmutterhalses vornehmen —, sagte sie das mit absoluter Bestimmtheit, da sie die Angelegenheit nicht nur aus dem eigenen Blickwinkel beurteilte, sondern auch aus dem der Patientin. Aber das erwähnte sie nicht, sondern sagte nur, Khones emotionale Ausstrahlung würde ihre Beobachtungen bestätigen.
„Das stimmt“, bezeugte Prilicla.
„Die Klassifikation FOKT ist eine der wenigen Lebensformen, die imstande ist, sich in aufrechter Stellung auszuruhen, obwohl sie sich auch hinlegen kann“, fuhr Cha Thrat schnell fort. „Seit ihre Vorfahren aus dem Meer gestiegen sind, sind ihre Körper und inneren Organe ständig senkrecht nach unten wirkenden Schwerkräften ausgesetzt gewesen, wie die der Hudlarer, Tralthaner und Rhenithi. Das erinnert mich an einen Fall vor ein paar Jahren auf der tralthanischen Entbindungsstation, der unserem hier weitgehend gleicht und bei dem.“
„Also, das haben Sie nie und nimmer von Cresk-Sar gelernt!“ fiel ihr Murchison plötzlich ins Wort. „Schwesternschülerinnen erfahren nichts von solchen Beinahekatastrophen, wenigstens nicht im ersten Jahr.“
„Ich habe mich gern mit sonderbaren Fällen außerhalb des Lehrplans befaßt“, log Cha Thrat dreist, „und das mache ich heute noch gern, wenn ich nicht gerade in ein Wartungshandbuch vertieft bin.“
Ihre emotionale Ausstrahlung verriet dem Cinrussker bestimmt, daß sie log, aber in welcher Beziehung, würde er nur vermuten können. „Beschreiben Sie, wie Sie vorgehen wollen“, war alles, was er sagte.
„Bevor ich das tue“, fuhr sie schnell fort, „nehmen Sie bitte das Verdeck vom Krankentransporter ab und justieren Sie die Schwerkraftgitter so um, daß sie am Kopf- und am Fußende der Trage in beide Richtungen wirken können. Stellen Sie die Haltegurte auf die Größe und das Gewicht der Patientin so ein, daß sie Belastungen zwischen abwechselnd plus und minus drei Ge standhalten. Fahren Sie die Sonde in den Korridor, damit ich von dort aus aufs Dach steigen kann. Beeilen Sie sich bitte. Ich bringe die Patientin jetzt nach draußen und werde alles weitere unterwegs erklären.“
Cha Thrat nahm Khone, die kaum noch bei Bewußtsein war, auf zwei der mittleren Arme, griff mit sämtlichen freien Händen fest in die Behaarung der Gogleskanerin, um ihr das Gefühl zu geben, immer noch mit einer Freundin verbunden zu sein, kletterte mühsam auf das Dach und schlich sich vorsichtig den Weg zurück, auf dem sie gekommen war. Die ganze Zeit schwebte Prilicla besorgt über ihr, Naydrad beklagte sich bitter, ihr Krankentransporter würde nie wieder so sein wie früher, und Murchison erinnerte die Kelgianerin daran, daß man schließlich extra eine Wartungstechnikerin mitgenommen habe oder zumindest so etwas Ähnliches.
Während Naydrad der Gogleskanerin sachkundig die Gurte anlegte und Murchison alle Atemöffnungen an die Sauerstofffversorgung anschloß, ließ Cha Thrat Khones Haare nicht los. Ihre Köpfe berührten sich nach wie vor, und die langen, silbrigen Fühler hielten immer noch den telepathischen Kontakt aufrecht. Cha Thrat prüfte noch, ob Khone das Scannerdisplay deutlich sehen konnte, da es ihr selbst in der momentanen ungünstigen Haltung nicht möglich war, nahm schließlich ihren ganzen Mut zusammen und gab das Startsignal.
Sie spürte, wie ihr Kopf und die oberen Gliedmaßen mit Wucht zur Seite gezogen wurden, als Naydrad das am oberen Ende der Trage befindliche Schwerkraftgitter anschaltete. Da sich Cha Thrats Unterkörper samt den Beinen außerhalb des Wirkungsbereichs des künstlichen Gravitationsfeldes befand, hatte sie Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten. Doch was Khone betraf, so war diese unter einer Anziehungskraft von zwei Ge, die allmählich auf drei Ge gesteigert wurde, sozusagen mit dem Kopf nach unten auf die Trage geschnallt.
„Herzschlag unregelmäßig“, berichtete Prilicla leise. „Blutdruck steigt im Oberkörper und Kopf, Atem geht schwer, leichte Verschiebung der Organe im Brustbereich, aber der Fötus hat sich nicht bewegt.“
„Soll ich die Anziehungskraft auf vier Ge erhöhen?“ fragte Naydrad mit einem Blick auf Prilicla. Aber die Antwort erhielt sie von Cha Thrat.
„Nein. Stellen Sie das Gitter auf zwei Ge ein und lassen Sie es so schnell wie möglich zwischen Anziehung und Abstoßung wechseln. Sie müssen versuchen, den Kleinen durch Schütteln freizubekommen.“
Jetzt wurde Cha Thrat von einer Seite auf die andere geschleudert, als ob sie von irgendeinem riesigen Tier mit weichen, unsichtbaren Pfoten geschlagen würde, während die Patientin die gleiche Tortur in der Senkrechten durchmachte. Es gelang Cha Thrat, den Kopf weiterhin gegen Khones zu drücken und die Haare der Gogleskanerin festzuhalten, aber sie spürte eine zunehmende Übelkeit, die sie an den ein oder anderen Anfall von Reisekrankheit in ihrer Kindheit erinnerte.
„Freundin Cha Thrat, geht es Ihnen gut?“ erkundigte sich Prilicla besorgt. „Sollen wir einen Moment aufhören?“