„Mein lieber Freund Edanelt“, entgegnete der Empath freundlich mit einem kurzen Seitenblick zur Galerie, „bis auf das neueste Mitglied unseres Stabs wissen wir alle, daß die operativen Eingriffe, die Sie lediglich als ausreichend erachten, von Conway höchstpersönlich als vorbildlich bezeichnet werden würden. Wenigstens wäre es höchst interessant, mehr über die prä- und postoperative Krankengeschichte zu erfahren.“
„Das habe ich auch gerade gedacht“, pflichtete ihm der Melfaner bei. Seine sechs knochigen Füße erzeugten ein rasches, unregelmäßiges Klackern, während er sich der Zuschauergalerie zuwandte. „Würden Sie bitte zu uns herunterkommen?“
Cha Thrat befreite sich rasch aus dem Alienstuhl, und in dem Bewußtsein, daß jetzt sie an der Reihe war, sich einer noch eingehenderen Untersuchung zu unterziehen, einer, die wahrscheinlich eher ihre berufliche als ihre körperliche Tauglichkeit für den Dienst im Orbit Hospital unter Beweis stellen sollte, folgte sie Danalta nach unten in den Saal zu den anderen am Tisch.
Diese Aussicht mußte sie mehr geängstigt haben, als ihr bewußt war,
denn der Empath begann erneut zu zittern. Zudem war es beunruhigend, ja sogar erschreckend, dem Cinrussker plötzlich so nah zu sein. Auf Sommaradva muß man großen Insekten aus dem Weg gehen, weil sie ausnahmslos tödliche Stacheln besitzen. Ihre Instinkte drängten sie, dieses Insekt entweder totzuschlagen oder vor ihm zu fliehen. Insekten hatte sie noch nie ausstehen können und es deshalb immer vermieden, sie aus der Nähe zu betrachten. Jetzt aber blieb ihr keine andere Wahl.
Doch von der komplizierten Symmetrie der zitternden Glieder und des außergewöhnlich zerbrechlich wirkenden Körpers, dessen dunkler Schimmer Farben widerzuspiegeln schien, die im Raum gar nicht vorhanden waren, ging eine unaufdringliche optische Anziehungskraft aus. Der Kopf war — bildlich gesprochen — eine fremdartige, spiralförmig gewundene Eierschale von einem derart feinen Bau, als müßten die an ihm sitzenden Fühler und Greiforgane bei der ersten heftigen Bewegung abfallen. Aber es war die komplexe Struktur und Färbung der teilweise gefalteten Flügel, scheinbar aus einem hauchdünnen, schillernden, auf ein Gerüst aus unvorstellbar dünnen Zweigen gespannten Stoff bestehend, durch die ihr bewußt wurde, daß dieses Insekt, ob nun Alien oder nicht, eins der schönsten Geschöpfe war, das sie je gesehen hatte — zudem konnte sie es jetzt sehr deutlich erkennen, weil Priliclas Gliedmaßen nicht mehr zitterten.
„Nochmals vielen Dank, Cha Thrat“, sagte der Empath. „Sie lernen schnell. Und keine Sorge, wir sind Ihre Freunde und wünschen Ihnen alles Gute.“
Edanelts Füße klackerten erneut unregelmäßig auf dem Boden; womöglich war dieses Geräusch ein Zeichen von Ungeduld. „Führen Sie uns bitte Ihren Patienten vor“, forderte er Cha Thrat auf.
Einen Moment lang blickte sie auf den Terrestrier hinunter, auf den rosafarbenen, eigenartig geformten Alienkörper, der ihr durch den Unfall so vertraut geworden war. Sie erinnerte sich, wie er ausgesehen hatte, als er ihr zum erstenmal vor Augen gekommen war: die blutenden, offenen Wunden und die gebrochenen, heraustretenden Knochen; der allgemeine Zustand, der die sofortige Verabreichung von Beruhigungsmitteln bis zum Exitus stark angebracht erschienen ließ. Selbst jetzt fand sie noch immer nicht die passenden Worte, um zu erklären, warum sie das Leben dieses Terrestriers nicht beendet hatte. Abermals blickte sie an die Decke zum Cinrussker hinauf.
Obwohl Prilicla nichts sagte, hatte Cha Thrat dennoch das Gefühl, als ginge von dem kleinen Empathen eine beruhigende und aufmunternde Ausstrahlung aus. Das war natürlich eine alberne Vorstellung, die wahrscheinlich ebenso absurdem wie törichtem Wunschdenken entsprang, aber trotzdem beruhigend auf sie wirkte.
„Dieser Patient ist einer von drei Insassen eines Flugzeugs gewesen, das in einen Bergsee stürzte“, berichtete Cha Thrat mit ruhiger Stimme. „Bevor das Wrack gesunken ist, wurden noch ein sommaradvanischer Pilot und ein weiterer Terrestrier daraus geborgen, die aber bereits beide tot waren. Der Überlebende wurde an Land gebracht und von einem Heiler untersucht, der nicht ausreichend qualifiziert war und mich kommen ließ, da er wußte, daß ich in der betreffenden Gegend gerade einen Erholungsurlaub verbrachte.
Der Patient hatte sich durch gewaltsamen Kontakt mit dem Metall des Flugzeugs an den Gliedmaßen und am Rumpf zahlreiche Schnitt- und Rißwunden zugezogen und fortgesetzt Blut verloren. Unterschiede im Aussehen der Glieder auf der rechten und der linken Seite ließen auf mehrfache Frakturen schließen, von denen eine sofort an dem durch die Haut gestoßenen Knochen am linken Bein zu erkennen war. Da es keine Anzeichen für Blutungen aus den Atem- und Sprechöffnungen des Patienten gab, konnte man davon ausgehen, daß in der Lunge und im Bauchbereich keine ernsthaften Verletzungen vorlagen. Natürlich mußte ich das ganze Für und Wider dieses Falls genau erwägen, bevor ich mich bereit erklärte, den Patienten zu übernehmen.“
„Natürlich“, stimmte Edanelt zu. „Sie haben vor dem Problem gestanden, einen Angehörigen einer außerplanetarischen Spezies mit einer Physiologie und einem Metabolismus zu behandeln, mit denen Sie vorher keine praktischen Erfahrungen machen konnten. Oder besitzen Sie womöglich doch irgendwelche Vorkenntnisse? Haben Sie nicht mit dem Gedanken gespielt, einen Arzt derselben Spezies zu rufen?“
„Ich hatte ja bis dahin noch nie einen Terrestrier gesehen“, antwortete Cha Thrat. „Ich wußte nur, daß sich eins ihrer Schiffe im Orbit über Sommaradva befand und der freundschaftliche Kontakt weitgehend hergestellt war. Wie ich gehört hatte, reisten die Terrestrier überall zwischen unseren Hauptstädten herum und benutzten dabei häufig unsere Luftverkehrsmittel, wahrscheinlich, um auf diese Weise Erkenntnisse über unseren technologischen Stand zu sammeln. Jedenfalls habe ich eine Nachricht in die nächste Stadt geschickt, in der Hoffnung, man würde sie an die Terrestrier weiterleiten, allerdings war es unwahrscheinlich, daß sie noch rechtzeitig eintreffen könnte. Die Gegend ist nämlich sehr abgeschieden, stark bewaldet und nur äußerst dünn besiedelt. Die Möglichkeiten waren also begrenzt, und die Zeit war knapp.“
„Ich verstehe“, sagte Edanelt. „Aber jetzt beschreiben Sie uns bitte Ihre Vorgehensweise.“
Während sie sich zurückerinnerte, sah Cha Thrat erneut das Gewirr von Narben und die dunklen, durch Quetschungen hervorgerufenen Blutergüsse vor sich, die sich noch nicht aufgelöst hatten.
„Zum Zeitpunkt der Behandlung war mir nicht bekannt, daß einheimische Krankheitserreger auf Lebensformen von anderen Planeten keinen Einfluß haben, deshalb schien mir ernste Infektionsgefahr zu bestehen. Außerdem bin ich davon ausgegangen, daß sommaradvanische Medikamente und Narkotika wirkungslos, wenn nicht sogar tödlich sein könnten. Das einzig angezeigte Vorgehen bestand also darin, die Wunden, insbesondere diejenigen, die durch die Frakturen verursacht worden waren, gründlich mit destilliertem Wasser auszuspülen. Beim Richten der Brüche waren an den entsprechenden Stellen zudem einige kleinere Eingriffe an geschädigten Blutgefäßen erforderlich. Die Schnittwunden wurden genäht und verbunden und die gebrochenen Gliedmaßen ruhiggestellt. Die Behandlung ist sehr schnell durchgeführt worden, da der Patient bei Bewußtsein war und.“
„Allerdings nicht lange“, warf Chiang leise ein. „Ich bin nämlich ohnmächtig geworden.“
„… und der Puls schwach und unregelmäßig zu sein schien, obwohl ich die für Terrestrier normalen Werte natürlich nicht kannte“, fuhr Cha Thrat fort. „Die einzigen Mittel, die mir zur Bekämpfung des Schocks und der Folgen des Blutverlusts zur Verfügung standen, waren die äußerliche Erwärmung, die ich durch brennendes Holz im Windschatten des Patienten erzielt habe, um das Operationsfeld nicht durch Rauch und Asche zu infizieren, sowie durch reines Wasser, das ich intravenös verabreichte, nachdem der Patient das Bewußtsein verloren hatte. Ich war mir nicht sicher, ob unsere Salzlösung heilsam oder giftig sein würde. Mittlerweile ist mir klar, daß ich übervorsichtig gewesen bin, aber ich wollte nicht den Verlust einer Gliedmaße riskieren.“