Cha Thrat hielt den toten Alien fest und umfaßte mit zwei ihrer oberen Gliedmaßen eine seiner großen, kräftigen Hände. Die Finger waren kurz und dick und ließen sich nicht ineinander verschränken. An der Spitze befanden sich kurzgeschnittene Krallen. Cha Thrat konnte sich gut vorstellen, daß diese krallenbewehrten Hände in der Vorgeschichte der Spezies frisch gerissene Beutetiere zum Maul geführt hatten, in dem selbst heute noch lange und sehr gefährlich wirkende Zähne saßen. Ihrer Meinung nach sah der Alien nicht gerade wie der Angehörige einer Spezies aus, die Schiffe für den interstellaren Raumflug bauen konnte.
Dieses Wesen machte einfach keinen, nun ja, zivilisierten Eindruck.
„Sie können nicht immer nach dem äußeren Erscheinungsbild urteilen“, sagte Murchison und machte Cha Thrat dadurch bewußt, daß sie wieder einmal laut gedacht hatte. „Gegen Ihren chalderischen Freund auf der AUGL-Station sieht dieser hier wie ein kleines Schoßtier aus.“
Dicht hinter der Pathologin folgten die übrigen Mitglieder des medizinischen Teams: Naydrad führte die Trage, Prilicla trippelte mit seinen sechs mit Saugnäpfen versehenen Beinen an der Decke entlang, und Danalta stülpte vor Cha Thrats Augen eine eigene, dickere Gliedmaße mit Saugnapf hervor und heftete sich damit wie eine wachsame, fremdartige Pflanze an die Wand.
Rasch hängte Murchison ihre Instrumententasche mit Hilfe von Magnetscheiben an die Wand und befestigte mit größeren Magneten und Gurten die Leiche. „Unser Freund hier hat Pech gehabt, aber so hilft er wenigstens noch den anderen“, sagte die Pathologin. „Mit ihm kann ich Sachen anstellen, an die ich bei lebenden Unfallopfern gar nicht zu denken wagen würde, und das, ohne wertvolle Zeit mit.“ „Verdammt, das ist doch geradezu lachhaft!“ fluchte plötzlich eine Stimme in sämtlichen Kopfhörern, die vor Überraschung und Ungläubigkeit so entstellt war, daß sie zunächst von niemandem als die des Captains identifiziert werden konnte. „Wir befinden uns jetzt auf dem Kommandodeck und haben ein zweites, diesmal lebendes Besatzungsmitglied entdeckt, das offensichtlich unverletzt ist und einen der fünf Kommandoplätze einnimmt. Die übrigen vier Plätze sind leer. Aber der Überlebende trägt an allen vier Beinen Fesseln und ist an seine Steuerungsliege festgekettet!“
Cha Thrat wandte sich von der Leiche ab und entfernte sich ohne ein Wort. Der Captain hatte ihr aufgetragen, Chen und ihm gleich nach der Ankunft des medizinischen Teams zu folgen, und genau das wollte sie jetzt tun, bevor Fletcher eine Chance haben würde, den früheren Befehl zu widerrufen. Ihre Neugier auf diesen eigentümlichen angeketteten Schiffsoffizier war so unerträglich, daß sie ihr beinahe physische Schmerzen bereitete.
Erst als sie schon zwei Decks weiter oben war, bemerkte sie, daß ihr Prilicla leise folgte.
„Ich habe versucht, mich mit dem Allen per Translator und durch die gebräuchlichen freundschaftlichen Handzeichen zu verständigen“, berichtete Fletcher gerade. „Der Übersetzungscomputer der Rhabwar ist imstande, einfache Mitteilungen in jede erdenkliche Sprache zu übertragen, die auf einem Lautsystem basiert. Der Allen knurrt und bellt mich zwar an, aber diese Laute werden nicht übersetzt. Sobald ich mich ihm nähere, benimmt er sich, als wolle er mir den Kopf abreißen. Ein anderes Mal vollführt er dann wieder ziellose und unkoordinierte Bewegungen mit dem Körper und den Gliedern, obwohl unser Freund ganz scharf darauf zu sein scheint, die Fußfesseln loszuwerden.“
In diesem Moment trafen Prilicla und Cha Thrat ein, und der Captain fügte hinzu: „Sehen Sie selbst.“
Der Cinrussker hatte an der Decke direkt über dem Eingang Stellung bezogen, weit entfernt von den wild fuchtelnden Armen des Besatzungsmitglieds, und sagte: „Freund Fletcher, die emotionale Ausstrahlung beunruhigt mich. Ich nehme Wut, Angst, Hunger und blinde, bedenkenlose Feindschaft wahr. Diese Gefühle sind von solch einer Grobschlächtigkeit und Intensität, wie man sie normalerweise nicht bei Wesen vorfindet, die über höhere Intelligenz verfügen.“
„Der Meinung bin ich auch, Doktor“, stimmte der Captain zu und sprang instinktiv zurück, als der Alien mit den gestutzten Krallen an den Händen nach seinem Gesicht stieß. „Aber die Liegen sind speziell für diese Lebensform konstruiert worden, und auch die Bedienungselemente, Schalter und Türgriffe, die wir bisher gesehen haben, sind auf genau diese Hände abgestimmt. Im Moment beachtet der Alien das Steuerpult allerdings überhaupt nicht, und die plötzliche Verstärkung der Schiffsdrehung, die wir bei unserem Anflug beobachtet haben, ist wahrscheinlich zufällig durch einen versehentlichen Schlag auf die entsprechenden Knöpfe verursacht worden.
Die Liege dieses Aliens ist, wie die anderen vier, auf Laufschienen befestigt und bis zum hinteren Anschlag zurückgeschoben“, fuhr Fletcher fort. „Dadurch ist es für den Alien sehr schwierig, mit der Hand die Steuerpulte zu erreichen. Doktor Prilicla, haben Sie irgendwelche Ideen? Mir fällt dazu nämlich nichts mehr ein.“
„Nein, mein Freund“, antwortete der Empath. „Aber wir sollten lieber auf ein tieferes Deck gehen, wo uns der Alien nicht hören und vor allem nicht sehen kann.“
Ein paar Minuten später fuhr er fort: „Die Angst, der Zorn und die feindschaftlichen Gefühle des Aliens haben sich jetzt verringert; der Hunger ist gleich stark geblieben. Aus Gründen, die ich im Moment nicht durchschaue, verhält sich das Besatzungsmitglied unlogisch und befindet sich in einem Wechselbad der Gefühle. Aber dort, wo der Alien jetzt ist, schwebt er nicht in unmittelbarer Gefahr und hat auch keinerlei Schmerzen. Freundin Murchison?“
„Ja?“
„Wenn Sie die Leiche untersuchen, achten Sie besonders auf den Kopf“, riet der Empath. „Mir ist der Gedanke gekommen, daß der Schädelbruch vielleicht doch nicht durch einen Unfall hervorgerufen wurde, sondern sich von dem Toten als Reaktion auf heftige und anhaltende Kopfschmerzen womöglich selbst beigebracht worden ist. Sie sollten nach Anzeichen einer Infektion oder Gewebsentartung der Gehirnzellen suchen, die die höher entwickelten Denkzentren und den Bereich der Gefühlsbeherrschung in Mitleidenschaft gezogen oder zerstört haben könnte.
Freund Fletcher“, fuhr Prilicla fort, ohne eine Antwort abzuwarten, „wir müssen schleunigst die restlichen Überlebenden aufspüren und ihren Zustand überprüfen. Aber vorsichtig, falls sie sich genauso verhalten wie unser Freund auf dem Kommandodeck.“
Unter der Führung von Priliclas empathischen Fähigkeiten machten sie rasch die drei großen Schlafsäle mit den übrigen Überlebenden ausfindig, die allesamt bei Bewußtsein waren und von denen sich fünf in dem einen Raum und je vier in den beiden anderen aufhielten. Den Aliens war es nicht gelungen herauszukommen, obwohl die Türen nicht verriegelt waren und sie einfach nur die Klinken hätten herunterdrücken müssen, um sie von innen zu öffnen. Das künstliche Schwerkraftsystem war in Betrieb, und der kurze Blick, den Prilicla und seine Begleiter erhaschen konnten, bevor die FGHJs sie entdeckten und angriffen, zeigte ihnen schmucklose Metallwände und einen von unordentlich hingeworfenem Bettzeug und zerschlagenen sanitären Anlagen übersäten Boden. Die Luft stank derart, daß man sie mit dem Messer hätte schneiden können.
„Freund Fletcher“, sagte Prilicla, als sie den letzten Schlafsaal verließen, „sämtliche Besatzungsmitglieder sind körperlich aktiv und schmerzfrei. Wäre da nicht die Tatsache, daß sie ganz offensichtlich nicht mehr in der Lage sind, ihr Schiff zu führen, würde ich sagen, sie sind kerngesund. Solange Freundin Murchison keine medizinische Ursache für ihr abnormes Verhalten gefunden hat, können wir nichts für sie tun.