„Die Aliens, die Ihnen diese unbedingt notwendigen Kenntnisse vermitteln werden, gehören zu vielen verschiedenen physiologischen Klassifikationen und arbeiten auf ebenso vielen verschiedenen medizinischen und technischen Spezialgebieten“, fuhr O'Mara fort. „Die Bandbreite erstreckt sich von Diagnostikern, Chefärzten und Heilern, die den Ihren ähnlich oder vollkommen unähnlich sind, bis hin zu den Pflegekräften und Labor- und Wartungstechnikern. Einige der Aliens werden Ihre medizinischen oder verwaltungstechnischen Vorgesetzten sein, andere werden Ihnen zwar nominell untergeordnet sein, aber das Wissen, das sie vermitteln, ist genauso wertvoll. Man hat mir mitgeteilt, daß Sie es regelrecht verabscheuen, die Verantwortung für einen Patienten mit jemand anders zu teilen. Während des Lehrgangs kann Ihnen, je nach Ermessen des verantwortlichen Arztes, gestattet werden zu praktizieren, aber nur unter strenger Beaufsichtigung. Haben Sie das verstanden, und akzeptieren Sie das?“
„Ja“, antwortete Cha Thrat mit Bedauern. Es würde die Wiederholung ihres ersten Jahrs an der Schule der Chirurgen für Krieger auf Sommaradva werden, aber hoffentlich ohne die damit verbundenen Probleme auf dem nichtmedizinischen Sektor.
„Dieses Gespräch entscheidet nicht darüber, ob Sie als ständige Mitarbeiterin des Hospitalpersonals angenommen werden oder nicht“, fuhr O'Mara fort. „Ich kann Ihnen nicht sagen, was Sie in den verschiedenen sich ergebenden Situationen tun oder lassen sollen. Das müssen Sie durch eigene Beobachtungen und die entsprechende Aufnahmebereitschaft für die Ausführungen Ihrer Ausbilder lernen und letztendlich für sich selbst entscheiden. Sollten jedoch wirklich ernsthafte Probleme auftauchen, die Sie nicht alleine lösen können, dann dürfen Sie gerne zu mir zur Beratung kommen. Je weniger Besuche Sie diesem Büro abstatten, desto besser bin ich Ihnen natürlich gesinnt. Ich werde laufend Berichte über die von Ihnen erzielten beziehungsweise nicht erzielten Fortschritte erhalten, und von diesen Berichten wird es abhängen, ob Sie im Orbit Hospital bleiben oder nicht.“
Er hielt kurz inne und strich sich mit den Fingern der rechten Hand durch den kurzgeschorenen, grauen Kopfpelz. Cha Thrat sah zwar genau hin, konnte aber keine Spur von herausgestrichenen Parasiten entdecken und kam zu dem Schluß, daß es sich bei dieser Geste um eine gedankenlose Bewegung gehandelt haben mußte.
„Dieses Gespräch soll einige der nichtmedizinischen Gesichtspunkte Ihrer Behandlung von Chiang untersuchen“, fuhr O'Mara fort. „In der kurzen Zeit, die uns zur Verfügung steht, würde ich gerne soviel wie möglich über Sie als sommaradvanisches Wesen erfahren — über Ihre Gefühle, Interessen, Vorlieben und Abneigungen, diese Art von Dingen also. Gibt es irgendeinen Themenkreis, zu dem Sie lieber keine Fragen beantworten möchten, beziehungsweise unklare oder falsche Auskünfte geben würden, weil das moralische, elterliche oder stammesgemeinschaftliche Verpflichtungen, die Sie während der Kindheit oder im Erwachsenenalter eingehen mußten, so von Ihnen verlangen? Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß ich in der Lage bin, Lügen zu entlarven, selbst die eigentümlichsten und mit größtem Einfallsreichtum entwickelten Lügen, die einige unserer Extraterrestrier von sich geben. Das erfordert allerdings stets eine Menge Zeit, und ich habe keine zu verlieren.“
Cha Thrat dachte einen Augenblick lang nach und antwortete dann: „Es gibt Punkte, die mit sexuellen Kontakten zusammenhängen, über die ich lieber nicht sprechen möchte. Alle anderen Fragen werde ich aber vollständig und wahrheitsgemäß beantworten.“
„Sehr schön!“ freute sich O'Mara. „Ich habe sowieso nicht die Absicht, diesen Bereich anzusprechen und werde das hoffentlich auch nie tun müssen. Im Augenblick interessieren mich Ihre Gedanken und Empfindungen von dem Moment an, als Sie zum erstenmal Ihren Patienten gesehen haben, bis zu Ihrer Entscheidung, ihn zu operieren. Zudem will ich jede wichtige Äußerung im Verlauf des Gesprächs zwischen Ihnen und dem sommaradvanischen Heiler wissen, der als erster am Ort des Geschehens eintraf, sowie den Grund für die Verzögerung der Operation, nachdem Sie die Verantwortung übernommen hatten. Sollten Sie zu der Zeit unter irgendwelchen übermächtigen Gefühlseindrücken gestanden haben, beschreiben und erläutern Sie diese bitte, falls Sie das können. Sprechen Sie die Gedanken so aus, wie sie Ihnen gerade in den Sinn kommen.“
Einen Moment lang versuchte Cha Thrat, sich ihre Eindrücke zu der fraglichen Zeit genau in Erinnerung zu rufen, dann erwiderte sie: „Ich habe in der Gegend eine Art Zwangsurlaub verbracht, den ich aber nicht genießen konnte, weil ich lieber weiter in meinem Krankenhaus gearbeitet hätte, als mir darüber den Kopf zu zerbrechen, wie man am besten die Zeit totschlagen kann. Als ich von dem Unfall hörte, war ich beinahe froh, da ich zuerst dachte, der Überlebende sei ein Sommaradvaner, so daß ich wieder etwas Anständiges zu tun gehabt hätte. Dann entdeckte ich die schweren Verletzungen des Terrestriers und wußte, daß sich der einheimische Heiler an den Verwundeten niemals herantrauen würde, weil er nur ein Heiler für Sklaven war. Auch wenn es sich bei dem Verunglückten nicht um einen sommaradvanischen Krieger handelte, so war er doch auf jeden Fall ein Krieger, der in Erfüllung seiner Pflicht verwundet worden war.
Ihre Zeitmaßeinheiten kenne noch nicht genau. Jedenfalls ereignete sich der Absturz kurz vor Sonnenaufgang, und am Seeufer, an das man Chiang gelegt hatte, traf ich kurz vor unserer Frühstückszeit ein. Ohne die geeigneten Medikamente und entsprechenden Kenntnisse über den Körperbau des Verwundeten waren viele Faktoren in Erwägung zu ziehen. Vernünftig wäre es gewesen, den Überlebenden verbluten zu lassen oder der Sache aus Nächstenliebe nachzuhelfen und ihn im See zu ertränken.“
An dieser Stelle hielt sie kurz inne, da O'Mara offenbar an einer vorübergehenden Blockierung der Atemwege litt, und fuhr dann fort: „Nach etlichen Untersuchungen und mehrmaligem Abschätzen der Risiken wurde mit der Operation am frühen Nachmittag begonnen. Zu der Zeit wußte ich noch nicht, daß Chiang der Herrscher eines Schiffs ist.“
Die beiden Terrestrier tauschten Blicke aus, und O'Mara sagte schließlich: „Das war fünf, vielleicht sechs Stunden später. Brauchen Sie immer so lange, um zu einer fachlichen Entscheidung zu kommen? Oder hätte es womöglich einen Unterschied gemacht, wenn Sie von Chiangs Rang oder Bedeutung gewußt hätten?“
„Es gab viele Gefahren, die abgewägt werden mußten — ich wollte unter keinen Umständen den Verlust einer Gliedmaße riskieren“, reagierte Cha Thrat in scharfem Ton auf diese unterschwellige Kritik. „Und zur zweiten Frage: Ja, es hätte einen Unterschied gemacht. Ein Chirurg für Krieger steht zu einem Herrscher im gleichen Verhältnis wie der Heiler für Sklaven zu einem Krieger. Es ist mir nicht gestattet, meinen Beruf außerhalb meiner Qualifikation auszuüben. Darauf stehen äußerst schwere Strafen, selbst unter Berücksichtigung der heutzutage immer lockerer gehandhabten Richtlinien. Aber in diesem Fall handelte es sich um eine einzigartige Situation. Ich war verängstigt und aufgeregt und würde wahrscheinlich genauso gehandelt haben, wenn ich gewußt hätte, daß Chiang ein Herrscher ist.“
„Ich bin froh, daß Sie normalerweise nicht über das Maß Ihrer Zuständigkeit hinaus chirurgisch tätig werden.“, merkte O'Mara an.
„Das war eine gute Tat von ihr“, warf Chiang leise ein.
„.und Ihre Ausbilder werden darüber ebenfalls erleichtert sein“, fuhr O'Mara fort. „Aber mich interessiert die Einteilung der sommaradvanischen Ärzteschaft. Können Sie mir darüber Näheres erzählen?“