Noch einmal, ehe ich beginne, blttere ich in jenem Buche, das mein Leben darzustellen vorgibt. Und wiederum mu ich lcheln. Denn wie wollten sie ans wahrhaft Innere meines Wesens heran, da sie einen falschen Einstieg whlten? Schon ihr erster Schritt geht fehl! Da fabelt ein mir wohlgesinnter Schulgenosse, gleichfalls Geheimrat heute, schon im Gymnasium htte mich eine leidenschaftliche Liebe fr die Geisteswissenschaften vor allen ndern Pennlern ausgezeichnet. Falsch erinnert, lieber Geheimrat! Fr mich war alles Humanistische schlecht ertragener, zhneknirschend durchgeschumter Zwang. Gerade weil ich als Rektorssohn in jener norddeutschen Kleinstadt von Tisch und Stube her Bildung immer als Brotgeschft betreiben sah, hate ich alle Philologie von Kindheit an: immer setzt ja die Natur, ihrer mystischen Aufgabe gem, das Schpferische zu bewahren, dem Kinde Stachel und Hohn ein gegen die Neigung des Vaters. Sie will kein gemchliches kraftloses Erben, kein bloes Fortsetzen und Weitertun von einem zum ndern Geschlecht: immer stt sie erst Gegensatz zwischen die Gleichgearteten und gestattet nur nach mhseligem und fruchtbarem Umweg dem Spteren Einkehr in der Voreltern Bahn. Genug, da mein Vater die Wissenschaft heilig sprach, und doch empfand meine Selbstbehauptung sie als bloes Klgeln mit Begriffen; weil er die Klassiker als Muster pries, schienen sie mir lehrhaft und darum verhat. Von Bchern rings umgeben, verachtete ich die Bcher; immer zum Geistigen vom Vater gedrngt, emprte ich mich gegen jede Form schriftlich berlieferter Bildung; so war es nicht verwunderlich, da ich nur mhsam bis zum Abiturium mich durchrang und dann mit Heftigkeit jede Fortsetzung des Studiums abwehrte. Ich wollte Offizier werden, Seemann oder Ingenieur; zu keinem dieser Berufe drngte mich eigentlich zwingende Neigung. Einzig der Widerwille gegen das Papierne und Didaktische der Wissenschaft lie mich Praktisch-Ttiges statt des Akademischen fordern. Doch mein Vater bestand mit seiner fanatischen Ehrfurcht vor allem Universittlichen auf meiner akademischen Ausbildung, und nichts als die Abschwchung gelang es mir durchzusetzen, da ich statt der klassischen Philologie die englische whlen durfte (welche Zwitterlsung ich schlielich mit dem geheimen Hintergedanken hinnahm, dank der Kenntnis dieser maritimen Sprache dann leichter ausbrechen zu knnen in die unbndig ersehnte Seemannslaufbahn).
Nichts ist also unrichtiger darum in jenem curriculum vitae als die freundliche Behauptung, ich htte im ersten Berliner Semester dank der Fhrung verdienstlicher Professoren, die Grundlagen der philologischen Wissenschaft gewonnen - was wute meine ungestm ausbrechende Freiheitsleidenschaft damals von Kollegien und Dozenten! Bei dem ersten flchtigen Besuch des Hrsaals schon bermannte die muffige Luft, der pastorenhaft-monotone und gleichzeitig breitspurige Vortrag mich dermaen mit Mdigkeit, da ich mich anstrengen mute, den Kopf nicht schlfernd auf die Bank zu legen - das war ja nochmals die Schule, der ich glcklich entronnen zu sein glaubte, der mitgeschleppte Klassenraum mit dem berhhten Katheder und der silbenstecherischen Kleinsachlichkeit: unwillkrlich war mir, als ob Sand aus den dnn aufgetanen Lippen des Geheimrats rinne, so zerrieben, so gleichmig rieselten die Worte des schleiigen Kollegienheftes in die dicke Luft. Der schon dem Schulknaben fhlbare Verdacht, in eine Leichenkammer des Geistes geraten zu sein, wo gleichgltige Hnde an Abgestorbenem anatomisierend herumfingerten, schreckhaft erneute er sich in diesem Betriebsraum eines lngst antiquarisch gewordenen Alexandrinertums - und wie intensiv erst wurde dieser abwehrende Instinkt, sobald ich von der mhsam ertragenen Lehrstunde hinaustrat in die Straen der Stadt, jenes Berlin von damals, das, ganz berrascht von seinem eigenen Wachstum, strotzend von einer allzu pltzlich aufgeschossenen Mnnlichkeit, aus allen Steinen und Straen Elektrizitt vorsprhte und ein hitzig pulsierendes Tempo jedem unwiderstehlich aufntigte, das mit seiner raffenden Gier dem Rausch meiner eigenen, eben erst bemerkten Mnnlichkeit hchst hnlich war. Beide, sie und ich, pltzlich aufgeschossen aus einer protestantisch ordnungshaften und umschrnkten Kleinbrgerlichkeit, vorschnell hingegeben einem neuen Taumel von Macht und Mglichkeiten - beide, die Stadt und ich junger ausfahrender Bursche, vibrierten wir wie ein Dynamo von Unruhe und Ungeduld. Nie habe ich Berlin so verstanden, so geliebt, wie damals, denn genau wie in dieser berflieenden warmen Menschenwabe, so drngte in mir jede Zelle nach pltzlicher Erweiterung - das Ungeduldigsein jeder starken Jugend, wo htte es dermaen sich entladen knnen als in dem zuckenden Sche dieses heien Riesenweibes, in dieser ungeduldigen, kraftausstrmenden Stadt! Mit einem Ruck ri sie mich an, ich warf mich in sie, stieg hinab in ihre Adern, meine Neugier umlief hastig ihren ganzen steinernen und doch warmen Leib -von frh bis nachts trieb ich mich um in den Straen, fuhr bis an die Seen, durchpirschte ihre Verstecke: wirklich, Besessenheit war es, mit der ich mich, statt des Studiums zu achten, in das Lebendig-Abenteuerliche des Auskundschaftens warf. Aber in dieser bertreiblichkeit gehorchte ich freilich nur einer Besonderheit meiner Natur: von Kind auf schon unfhig zu Gleichzeitigkeiten, wurde ich immer sofort gefhlsblind fr jede andere Beschftigung; immer und berall hatte ich diesen blo ein-linig vorstoenden Impetus, und noch heute in meiner Arbeit verbeie ich mich meist so fanatisch in ein Problem, da ichs nicht eher lasse, ehe ich nicht das Letzte, das Allerletzte seines Marks in den Zhnen fhle.
Damals nun wurde mir in Berlin das Freiheitsgefhl zu einem so bermchtigen Rausch, da ich selbst die flchtige Klausur der Vorlesungsstunde, ja die Umschlossen-heit meines eigenen Zimmers nicht ertrug: alles schien mir Versumnis, was nicht Abenteuer brachte. Und gewaltsam zumte sich der ohrenfeuchte, eben erst vom Halfter gelassene Provinzjunge auf, recht mnnlich zu gelten: ich hospitierte in einer Verbindung, suchte meinem (eigentlich scheuen) Wesen etwas Keckes, Schmissiges, Ludriges zu geben, spielte, kaum acht Tage eingewhnt, schon den Grostdter und Grodeutschen, lernte das Flegeln und Rekeln in den Cafehausecken als rechter Miles gloriosus mit verblffender Geschwindigkeit. In dies Kapitel der Mnnlichkeit gehrten natrlich auch die Frauen - oder vielmehr: die Weiber, wie es in unserer studentischen berheblichkeit hie -, und da kam mirs zupa, da ich ein auffallend hbscher Junge war. Hochgewachsen, schlank, die bronzene Patina des Meeres noch frisch auf den Wangen, turnerisch gelenk in jeder Bewegung, fand ich leichtes Spiel gegenber den ksigen, von der Stubenluft wie Heringe ausgedrrten Ladenschwengeln, die gleich uns allsonntags auf Beute in die Tanzlokale von Halensee und Hundekehle (damals noch weit auerhalb der Stadt) loszogen. Bald war es eine strohblonde Mecklenburger Dienstmagd mit milchweier Haut, die ich, hei vom Tanz, knapp vor ihrem Urlaubsheimgang noch in meine Bude schleppte, bald eine zappelige, nervse kleine Jdin aus Posen, die bei Tietz Strmpfe verkaufte - billige Beute zumeist, leicht genommen und rasch den Kommilitonen weitergegeben. Aber in dieser unvermuteten Leichtigkeit des Gewinnens lag fr den gestern noch ngstlichen Pennler eine berauschende berraschung - die billigen Erfolge steigerten meine Verwegenheit, und allmhlich betrachtete ich die Strae einzig noch als Jagdplatz dieser vollkommen wahllosen, nur mehr sportlichen Abenteuerei. Als ich so einmal, einem hbschen Mdchen nachsteigend, unter die Linden kam und - wirklich zufllig - vor die Universitt, mute ich lachen bei dem Gedanken, wie lange ich keinen Fu ber jene respektable Schwelle gesetzt. Aus bermut trat ich mit einem gleichgesinnten Freunde ein; wir lfteten nur die Tr, sahen (unglaublich lcherlich wirkte das) hundertfnfzig ber die Bnke gebeugte skribelnde Rcken gleichsam mitbetend von der Litanei eines psalmodierenden Weibartes. Und schon klinkte ich wieder zu, lie weiterhin das Bchlein jener trben Beredsamkeit ber die Schultern der Fleiigen rinnen und strotterte bermtig mit dem Genossen hinaus in die sonnige Allee. Manchmal will mir dnken, niemals habe ein junger Mensch dmmer seine Zeit vertan als ich in jenen Monaten. Ich las kein Buch, ich bin gewi, kein vernnftiges Wort geredet, keinen wirklichen Gedanken gedacht zu haben - aus Instinkt wich ich aller kultivierten Geselligkeit aus, nur um mit dem wach gewordenen Leibe strker die Beize des Neuen und bislang Verbotenen zu fhlen. Nun mag ja dies Besaufen am eigenen Saft, dies zeitverschwenderische Wider-sich-sel-ber-Wten irgendwie zum Wesen jeder starken und pltzlich freigegebenen Jugend gehren - dennoch machte meine besondere Besessenheit diese Art Lotterei schon gefhrlich und nichts wahrscheinlicher, als da ich vllig verbummelt oder zumindest in einer Dumpfheit des Gefhls untergegangen wre, htte nicht ein Zufall pltzlich den inneren Absturz gedmpft.