«Die junge Gwid kann manchmal recht lästig sein. Unsicher und viel zu unterwürfig. Aber sie hat ausgezeichnete Griechischkenntnisse, obwohl ich hin und wieder den Eindruck habe, daß sie zuviel
Zeit damit verbringt, für die Gedichte Sapphos zu schwärmen, anstatt die Schriften der Apostel zu studieren.» Sie hielt inne und zuckte mit den Schultern. «Ja, ich habe fähige Beraterinnen. Und doch habe ich kein gutes Gefühl bei der ganzen Sache. Ich glaube, es liegt an der feindseligen Stimmung, die ich bei den Mitgliedern der römischen Fraktion verspüre. Bei Agilbert dem Franken zum Beispiel, der viele Jahre in Irland studiert hat, sich aber inzwischen zu Rom bekennt, und bei Wilfrid, der sich sogar weigerte, mich zu begrüßen, als Äbtissin Hilda uns einander vorgestellt hat .»
«Wilfrid? Wer ist das? Ich kann mir diese sächsischen Namen so schwer merken.»
Etain seufzte. «Das ist der junge Mann, der die römische Fraktion hier in Northumbrien anfuhrt. Ich glaube, er ist der Sohn eines Edelmanns und gilt als äußerst jähzornig. Er war in Rom und Can-terbury und wurde von Agilbert in den Glauben eingeführt und später auch zum Priester geweiht. Der Unterkönig von Deira hat ihm Kloster Ripon übergeben, nachdem er zwei unserer eigenen Glaubensbrüder, die Äbte Eata und Cuthbert, dort vertrieben hatte. Dieser Wilfrid scheint unser ärgster Feind zu sein, ein hitzköpfiger Verfechter der römischen Lehre.» Etain seufzte. «Ich fürchte, wir haben hier viele Feinde.»
Schwester Fidelma sah plötzlich wieder das Gesicht des jungen sächsischen Mönchs vor sich, mit dem sie im Hof des Klosters zusammengestoßen war.
«Und doch sind uns gewiß nicht alle, die Rom unterstützen, auch feindlich gesonnen?»
Die Äbtissin lächelte nachdenklich.
«Vielleicht hast du recht, Fidelma, und ich habe einfach nur Herzklopfen vor Aufregung.»
«Vieles hängt morgen von deiner Eröffnungsrede ab», stimmte Fidelma zu.
«Es gibt da noch etwas ...» Etain zögerte.
Fidelma wartete geduldig und betrachtete aufmerksam das Gesicht der Äbtissin. Offenbar fiel es ihr schwer, die richtigen Worte zu finden.
«Fidelma», platzte sie schließlich heraus, «ich werde heiraten.»
Fidelmas Augen weiteten sich, aber sie sagte nichts. Priester, selbst Bischöfe, waren verheiratet, und auch Nonnen und Mönche, ob sie nun in Doppelhäusern lebten oder nicht, konnten nach dem Brehon-Gesetz verehelicht sein. Bei Äbten und Äbtissinnen war dies jedoch etwas anderes, denn ihr Amt war meist an den Zölibat gebunden. So war es auch in Kildare. Nach irischer Sitte wurde der Nachfolger oder coarb des Gründers stets aus seiner Verwandtschaft gewählt. Da Äbte und Äbtissinnen keine unmittelbaren Nachfahren hatten, hielt man meist in einem anderen Zweig der Familie nach einer Nachfolgerin oder einem Nachfolger Ausschau. Wenn sich im Kreise der weiteren Verwandtschaft kein Geistlicher fand, der einer solchen Stellung würdig gewesen wäre, wurde ein weltliches Mitglied der Familie zum coarb gewählt. Etain war mit der Familie Brigits von Kildare verwandt.
«Du müßtest Kildare aufgeben und wieder eine gewöhnliche Ordensschwester werden», stellte Fidelma fest.
Etain nickte. «Auf der langen Reise nach Streo-neshalh hatte ich Gelegenheit, gründlich darüber nachzudenken. Mit einem Fremden zusammenzuleben, wird nicht einfach sein, vor allem, nachdem ich so lange allein war. Doch bei meiner Ankunft war mir klar, daß ich fest dazu entschlossen bin. Wir haben bereits die Verlobungsgeschenke ausgetauscht. Die Sache ist entschieden.»
Fidelma ergriff die Hände ihrer Freundin und drückte sie fest.
«So will ich mich mit dir freuen, Etain, vor allem darüber, daß du dir so sicher bist. Wer ist denn dieser Fremde?»
Etain lächelte scheu.
«Wenn ich es auch nur einem Menschen anvertrauen könnte, Fidelma, dann ganz gewiß dir. Aber ich bin fest entschlossen, das Geheimnis zu hüten, bis die Debatte vorüber ist. Nach der großen Versammlung sollst du es erfahren, wenn ich meinen Verzicht auf Kildare erkläre.»
Immer lauter werdendes Geschrei unter dem Fenster ihres cubiculum lenkte sie ab.
«Was um alles in der Welt ist da los?» fragte Schwester Fidelma und runzelte mißbilligend die
Stirn. «Vor der Klostermauer scheint eine Rauferei im Gange zu sein.»
Äbtissin Etain seufzte.
«Seit meiner Ankunft habe ich schon viel zu viele Raufereien zwischen unseren Glaubensbrüdern und den Anhängern Roms mit ansehen müssen. Wahrscheinlich geht es wieder um unsere unterschiedlichen Auffassungen. Daß sich erwachsene Männer nicht anders zu helfen wissen, als zu persönlichen Beleidigungen und tätlichen Angriffen Zuflucht zu nehmen, nur weil sie über die Auslegung des Wortes Gottes uneins sind! Es ist traurig, daß unterschiedliche Antworten auf Glaubensfragen zu solchen Feindseligkeiten führen.»
Schwester Fidelma ging zum Fenster und schaute hinaus.
Unten stand ein Bettler, umringt von einer Menschenmenge. Nach der Kleidung zu urteilen, waren die meisten von ihnen Bauern, obgleich einige von ihnen das braune Habit der Mönche trugen. Sie schienen den ärmlich gekleideten Bettler zu verhöhnen, der mit heiserer Stimme ihre Spötteleien zu übertönen versuchte.
Schwester Fidelma hob die Augenbrauen.
«Der Bettler scheint ein Landsmann von uns zu sein», sagte sie.
Äbtissin Etain trat zu ihr ans Fenster.
«Bettler haben oft viel Hohn und Spott zu ertragen.»
«Hör doch nur, was er sagt.»
Die beiden Frauen lauschten angestrengt, um die heiseren Worte des Bettlers zu verstehen.
«Ich sage euch, morgen wird sich die Sonne am Himmel verfinstern, und dann wird Blut den Boden von Streoneshalh beflecken. Nehmt euch in acht! Ich habe euch gewarnt! Ich sehe Blut fließen in den Mauern dieser Abtei!»
IV
DAS GELÄUT DER GROßEN GLOCKE
kündete davon, daß die Eröffnung der Synode unmittelbar bevorstand. Wenigstens, überlegte Schwester Fidelma, hatten sich beide Seiten auf das griechische Wort synodos als Bezeichnung für dieses Treffen christlicher Würdenträger einigen können. Die Synode von Streoneshalh versprach, eine der wichtigsten Versammlungen in der Geschichte der Kirchen von Iona und Rom zu werden.
Schwester Fidelma nahm ihren Platz im sacra-rium ein, dem größten Raum der Abtei, in dem die Debatte stattfinden sollte. Es herrschte lautes Stimmengewirr, denn alle Teilnehmer der Versammlung sprachen durcheinander. Das gewaltige sacra-rium mit den hohen Steinwänden und der wuchtigen Gewölbedecke verstärkte die Geräusche durch ein dumpfes Echo. Doch trotz der Weitläufigkeit fühlte Fidelma sich seltsam beengt beim Anblick der zahllosen Menschen, die sich auf den dunklen Eichenbänken zusammendrängten. Auf der linken Seite hatten sich all jene versammelt, die den Regeln Columbans folgten, auf der rechten Seite saßen die Anhänger Roms.
Etwas weiter vorne hatten die kirchlichen Würdenträger Platz genommen. Fidelma hatte noch nie so viele von ihnen an einem Ort gesehen. Ihre prächtige Kleidung aus wertvollen Stoffen wies sie als Edelmänner aus, die aus den verschiedensten Königreichen Britanniens hier zusammengekommen waren.
«Eindrucksvoll, nicht wahr?»
Fidelma schaute auf und sah Bruder Taran, der sich auf dem freien Platz neben ihr niederließ. Innerlich stöhnte sie auf. Sie hatte gehofft, dem selbstgefälligen Bruder aus dem Weg gehen zu können. Nach der langen Reise von Iona hatte sie nun genug von seiner Gesellschaft.
«Seit der großen Versammlung in Tara im letzten Jahr habe ich keine so eindrucksvolle Zusammenkunft mehr gesehen», erwiderte sie kühl, als er sie fragte, was sie von dem Schauspiel halte. Ebenso eindrucksvoll, fügte sie im stillen hinzu, waren aber auch die üblen Gerüche, die das sacrarium trotz der vorsorglich aufgestellten Räuchergefäße durchdrangen. Um die Körperpflege der Ordensbrüder und -schwestern in Northumbrien war es traurig bestellt, dachte Fidelma tadelnd. Ganz anders war dies in Irland, wo sie täglich badeten und an jedem neunten Tag gemeinsam das tigh 'n allu-is, das Schwitzhaus, besuchten. Dort brachte ein Torffeuer sie kräftig in Schweiß, ehe sie in kaltes Wasser tauchten und sich anschließend mit Tüchern warm rieben.