Und so erblickte Fidelma zum ersten Mal Os-wiu, den König von Northumbrien. Oswiu hatte den Thron bestiegen, nachdem sein Bruder Oswald von Penda mit seinen Verbündeten in Maserfeld erschlagen worden war. Innerhalb weniger Jahre hatte Oswiu seinen Bruder gerächt und Penda und seine Gefolgsleute getötet. Inzwischen wurde er als Bretwalda gefeiert, ein Titel, der ihn, wie Taran ihr erklärte, zum Führer aller Königreiche der Angeln und Sachsen erhob.
Neugierig betrachtete Fidelma den hochgewachsenen Mann, dessen Vorgeschichte sie aus Erzählungen kannte. Als Kinder waren er und seine Geschwister aus Northumbrien vertrieben worden, nachdem Edwin ihren Vater ermordet und den Thron an sich gerissen hatte.
Die verbannten Königskinder waren im Königreich Dal Riada aufgewachsen und auf der heiligen Insel Iona zum Christentum bekehrt worden. Als Oswald, Oswius älterer Bruder, den Thron zurückeroberte und seine Geschwister aus dem Exil holte, sandte er auch nach Iona und bat darum, Missionare nach Northumbrien zu schicken, die sein Volk vom Heidentum abbringen und im Lesen und Schreiben unterrichten könnten. Fidelma war daher immer ganz selbstverständlich davon ausgegangen, daß König Oswiu für Iona Partei ergriff.
Aber sie wußte auch, daß Oswiu in dieser Debatte zwar das letzte Wort hatte, dabei aber unter dem Druck seiner Erben und der zahlreichen Abgesandten anderer Könige stand, die auf sein Urteil Einfluß nahmen.
In der kleinen Prozession, die Oswiu auf dem Weg zu seinem Thron an der Stirnseite des sacra-rium begleitete, folgte als erster Colman als Oswius Bischof und wichtigster Abt seines Königreichs. Dann kamen Hilda und eine andere Frau, deren Gesichtszüge stark an Oswiu erinnerten.
«Das ist Abbe, Oswius älteste Schwester», flüsterte Taran. «Sie war in Iona im Exil und ist eine überzeugte Verfechterin von Columcilles Liturgie. Abbe ist Äbtissin des nördlich von hier gelegenen Klosters Coldingham, eines Doppelhauses, in dem Männer und Frauen gemeinsam ihr Leben Christus weihen können.»
«Nach allem, was ich gehört habe, hat es einen ziemlich zweifelhaften Ruf», raunte Gwid ihr von der anderen Seite zu. «Es heißt, die Nonnen und Mönche in der Abtei seien allzusehr dem Feiern, Trinken und anderen weltlichen Genüssen zugetan.»
Schwester Fidelma antwortete nicht. Es gab viele conhospitae oder Doppelhäuser, und daran war nichts auszusetzen. Ihr mißfiel die Art, in der Schwester Gwid anzudeuten schien, daß diese Lebensform etwas Verwerfliches an sich hätte. Sie wußte, daß einige Asketen die Doppelhäuser verdammten und die Ansicht vertraten, jeder, der sein Leben in den Dienst Gottes stelle, müsse auch enthaltsam leben. Ja, man hatte ihr erzählt, einige dieser Asketen würden sogar wie Bruder und Schwester zusammenleben, um dadurch die Stärke ihres Glaubens und die übernatürliche Kraft der Keuschheit unter Beweis zu stellen - ein Gebaren, gegen das Johannes Chrysostom von Antioch mit aller Macht zu Felde gezogen war.
Fidelma hatte nichts gegen religiöse Gemeinschaften von Männern und Frauen einzuwenden.
Sie teilte die Auffassung, daß Geistliche heiraten und Kinder haben sollten, mit der überwältigenden Mehrheit aller Gläubigen, nicht nur in der irischen, sondern auch in der römischen und sogar in der östlichen Kirche. Nur Asketen glaubten an den Zölibat und forderten die Trennung der Geschlechter. Daß Schwester Gwid ähnliche Ansichten zu vertreten schien, überraschte Fidelma. Sie selbst ging davon aus, daß irgendwann auch sie jemanden finden würde, mit dem sie ihr Leben und ihre Arbeit teilen konnte. Doch gab es keinen Grund zur Eile, und bisher war sie auch noch keinem Mann begegnet, der sie so gefesselt hätte, daß eine Entscheidung notwendig gewesen wäre. Vielleicht würde es auch nie zu einer solchen Entscheidung kommen. Das Leben ließ sich nicht vorausplanen. Auf gewisse Weise beneidete sie ihre Freundin Etain um die Gewißheit, mit der sie sich zu einer zweiten Heirat und zum Verzicht auf Kil-dare entschlossen hatte.
Hinter Äbtissin Abbe ging ein älterer Mann, dessen gelbliches Gesicht vor Schweiß glänzte. Er stützte sich auf den Arm eines jüngeren Mannes, dessen Gesicht Fidelma trotz seiner engelhaften, rosigen Rundlichkeit sofort wölfisch erschien. Mit seinen eng zusammenstehenden Augen blickte er wachsam um sich, als würde er überall Feinde wittern. Der alte Mann war offensichtlich krank. Fidelma wandte sich zu Taran um.
«Deusdedit, der Erzbischof von Canterbury, und Wighard, sein Sekretär», sagte Taran, ehe sie ihre Frage ausgesprochen hatte. «Sie stehen an der Spitze der römischen Delegation.»
«Und der Greis, der als letzter hereingekommen ist?»
Sie deutete auf einen alten Mann, der auf den ersten Blick wie ein Hundertjähriger wirkte. Sein Rücken war gebeugt, und sein Körper war so faltig und hager, daß er aussah wie ein wandelndes Skelett.
«Das ist der Mann, den es keine Mühe kosten würde, die Sachsen gegen uns aufzuwiegeln», erklärte Taran.
Fidelma zog die Augenbrauen hoch.
«Wilfrid? Ich hatte ihn mir jünger vorgestellt.»
Taran schüttelte den Kopf.
«Nein, nicht Wilfrid. Das ist Jakobus, von den Sachsen James genannt. Als Rom vor über sechzig Jahren Augustinus’ Mission in Kent verstärken wollte, wurde eine Gruppe von Missionaren ausgeschickt, die von einem Mann namens Paulinus angeführt wurde. Zu dieser Gruppe gehörte auch Jakobus - er muß also heute mehr als achtzig Jahre alt sein. Als Edwin von Northumbrien und Aethel-burh von Kent, die Mutter unserer heutigen Königin Eanflaed, heirateten, begleitete Paulinus sie als ihr persönlicher Kaplan. Doch sein Versuch, die Northumbrier zum römischen Glauben zu bekehren, blieb ohne Erfolg. Er floh mit Aethelburh und der kleinen Eanflaed zurück nach Kent, wo er vor zwanzig Jahren bei einem Aufstand der Heiden ums Leben kam.»
«Und Jakobus?» fragte Fidelma. «Ist er auch geflohen?»
«Nein, er ist in Catraeth geblieben, das die Sachsen Catterick nennen. Zeitweise hat er als Einsiedler, dann wieder als Missionar gelebt. Aber ich zweifele nicht daran, daß unsere Gegner ihn als lebenden Beweis dafür vorführen werden, daß Rom lange vor Iona versucht hat, Northumbrien zu missionieren, und daher die älteren Rechte hat. Sein ehrwürdiges Alter und die Tatsache, daß er ein Römer ist, der sowohl Paulinus als auch Augustinus noch persönlich kannte, fällt stark gegen uns ins Gewicht.»
Trotz aller Vorbehalte gegen Bruder Taran konnte Fidelma nicht umhin, sich von seinem Wissen beeindruckt zu zeigen.
Die kleine Prozession hatte inzwischen das Podest an der Stirnseite des großen Raumes erreicht, und Äbtissin Hilda forderte die Menge mit einer Handbewegung auf, sich von den Plätzen zu erheben.
Bischof Colman trat vor und machte das Zeichen des Kreuzes. Dann hob er die Hand und gab der Versammlung seinen Segen. Er tat dies im Stil der Kirche Ionas, indem er mit Zeigefinger, Ringfinger und kleinem Finger die Dreieinigkeit andeutete, anstatt nach römischer Sitte Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger zu heben. Unter den Anhängern Roms erhob sich daraufhin empörtes Gemurmel, das Colman jedoch geflissentlich überhörte, um dann auf griechisch - der Sprache, in der die Kirche Ionas ihre Gottesdienste abhielt - den Segen Gottes zu erbitten.
Dann wurde Deusdedit nach vorne geführt. Mit schwacher Stimme, die seine Gebrechlichkeit noch unterstrich, erteilte er den Segen nach römischer Sitte auf lateinisch.
Äbtissin Hilda bedeutete allen Anwesenden, auf ihren Bänken und Stühlen Platz zu nehmen.