«Brüder und Schwestern in Jesus Christus, möge nun unsere Debatte um den rechten Glauben beginnen. Soll die Kirche von Northumbrien den Lehren der Kirche Ionas folgen, die uns aus der Dunkelheit zum Licht Christi führte? Oder soll sie sich zur Kirche Roms bekennen, die das Licht am Anfang in alle nahen und fernen Teile der Welt getragen hat? Die Entscheidung liegt in Euren Händen.»
Sie wandte sich nach rechts.
«Als erstes wollen wir die Eröffnungsreden hören. Agilbert von Wessex, seid Ihr bereit, für Eure Kirche zu sprechen?»
«Nein!» erwiderte eine krächzende Stimme. Die Versammelten hielten erstaunt den Atem an, dann erhob sich allgemeines Gemurmel.
Mit einer Handbewegung mahnte Äbtissin Hilda zur Ruhe.
Ein schlanker, dunkelhäutiger Mann mit einem schmalen, adlernasigen Gesicht erhob sich von seinem Platz.
«Agilbert ist Franke», flüsterte Taran. «Er hat lange Zeit in Irland studiert.»
«Vor vielen Jahren», begann Agilbert in einem schleppenden Sächsisch mit starkem Akzent, das Fidelma nur dank Bruder Tarans Übersetzung verstand, «berief Cenwealh von Wessex mich zum Bischof in seinem Königreich. Zehn Jahre lang habe ich dieses Amt ausgefüllt, bis Cenwealh sich auf einmal unzufrieden zeigte und behauptete, ich würde seinen sächsischen Dialekt nicht gut genug beherrschen. Er ernannte Wine zum Bischof, und ich habe sein Land verlassen. Nun werde ich gebeten, hier für die römische Lehre zu streiten. Wenn ich aber mit meiner Redeweise Cenwealh und die Westsachsen nicht zufriedenstellen kann, sehe ich mich auch nicht in der Lage, hier für meine Kirche zu sprechen. Mein Schüler Wilfrid von Ripon wird daher die Debatte für Rom eröffnen.»
Fidelma runzelte die Stirn.
«Dieser Franke scheint recht empfindlich zu sein.»
«Ich habe gehört, er sei auf dem Heimweg nach Frankreich, weil er sich inzwischen mit allen Sachsen überworfen hat.»
Ein kleiner, stämmiger Mann mit rotem Gesicht und einer schroffen, herausfordernden Art erhob sich neben ihm.
«Ich, Wilfrid von Ripon, bin bereit, unsere einleitenden Argumente vorzutragen.»
Äbtissin Hilda nickte zustimmend und wandte sich dann der anderen Seite zu.
«Und was ist mit Iona? Ist Äbtissin Etain von Kildare zur Eröffnungsrede bereit?»
Es gab keine Antwort.
Fidelma reckte den Hals. Erst jetzt fiel ihr auf, daß sie Etain noch gar nicht im sacrarium gesehen hatte. Wieder erhob sich allgemeines Gemurmel.
Äbtissin Abbes Stimme klang seltsam hohl, als sie verkündete: «Die Äbtissin von Kildare weilt offenbar nicht unter uns.»
In diesem Augenblick schwang eine der großen Türen auf. Atemlos und mit aschfahlem Gesicht erschien ein Glaubensbruder auf der Schwelle.
«Unheil!» rief er mit hoher, sich überschlagender Stimme. «Brüder und Schwestern, ein großes Unheil kommt über uns!»
Äbtissin Hilda funkelte den Mann zornig an.
«Bruder Agatho! Ihr vergeßt Euch!»
Der Mönch eilte nach vorn. Selbst von ihrem Platz aus konnte Fidelma die panische Angst in seinem Gesicht erkennen.
«Schaut aus den Fenstern und seht Euch die Sonne an. Gott ist dabei, sie mit eigener Hand am Himmel auszulöschen ... Die Welt verdunkelt sich. Domine dinge nos! Das muß ein Zeichen sein. Ein böser Fluch liegt über dieser Versammlung.»
Bruder Taran übersetzte Fidelma seine hastig auf sächsisch hervorgestoßenen Worte, die alle
Anwesenden in Aufruhr versetzten. Viele von ihnen sprangen auf und eilten zu den Fenstern.
Es war der düstere Agilbert, der sich zu denen umwandte, die auf ihren Plätzen sitzen geblieben waren.
«Bruder Agatho hat recht. Das Licht der Sonne ist verloschen. Das kann nur ein Zeichen drohenden Unheils sein.»
V
UNGLÄUBIG WANDTE SICH SCHWESTER
Fidelma zu Bruder Taran um.
«Sind diese Sachsen tatsächlich so abergläubisch? Wissen sie nichts über Astronomie?»
«Sie wissen sehr wenig», erwiderte Taran in selbstgefälligem Ton. «Unser Volk hat ihnen einiges beigebracht, aber ihre Auffassungsgabe ist äußerst langsam.»
«Jemand sollte ihnen sagen, daß eine Sonnenfinsternis nichts Übernatürliches ist.»
«Sie würden es Euch nicht danken», zischte Schwester Gwid ihr von der anderen Seite zu.
«Aber viele unserer Brüder und Schwestern hier sind doch mit der Astronomie vertraut und kennen Sonnen- und Mondfinsternisse und all die anderen Himmelserscheinungen», widersprach Fidelma.
Bruder Taran bedeutete ihr zu schweigen, denn Wilfrid, der streitbare Sprecher Roms, hatte sich von seinem Platz erhoben.
«Wenn das Licht der Sonne am Himmel erlischt, meine Brüder und Schwestern, kann das nur ein böses Omen sein. Aber was will es uns sagen? Ich kann es Euch erklären, denn die Botschaft ist ganz einfach: Wenn die Kirchenmänner und -frauen dieses Landes nicht den irrigen Vorstellungen Columbans entsagen und sich der einzigen und wahrhaftigen Kirche Roms zuwenden, wird das Christentum in diesem Land ebenso ausgelöscht werden wie die Sonne am Himmel. Gott hat uns ein Zeichen gegeben. Es liegt an uns, es zu befolgen.»
Die Anhänger Roms applaudierten heftig, während von den Vertretern der Kirche Columbans ein Aufschrei der Empörung zu hören war.
Mit wutverzerrtem Gesicht sprang ein junger Mann mit der Tonsur Columbans von seinem Platz auf und ergriff das Wort.
«Woher will Wilfrid von Ripon das wissen? Hat Gott persönlich mit ihm gesprochen und ihm die Erscheinung am Himmel erklärt? Mit gleichem Recht könnten wir behaupten, das Zeichen deute darauf hin, daß Rom sich Columban anschließen soll. Denn wenn jene, die den römischen Verfälschungen des wahren Glaubens anhängen, nicht endlich einsehen, daß Columbans Lehre den einzig heilbringenden Weg zu Gott und Jesus Christus darstellt, wird das Christentum in diesem Land wahrhaftig untergehen.»
Nun waren es die römischen Anhänger, die empört aufbegehrten.
«Das war Cuthbert von Melrose», erklärte Taran grinsend. Der Streit schien ihm sichtlich Spaß zu machen. «Es war Wilfrid, der ihn - auf Alhfriths Geheiß - von Ripon vertrieben hat, weil er nicht bereit war, den Lehren Columbans abzuschwören.»
Nun erhob sich König Oswiu. Sofort kehrte ehrfürchtige Stille ein.
«Dieser Streit führt uns nicht weiter. Die Versammlung wird ausgesetzt, bis .»
Ein schriller Schrei hinderte ihn daran, seinen Satz zu beenden.
«Die Sonne erscheint wieder!» rief eine Stimme vom Fenster.
Begeistert liefen einige hin, um ihre Köpfe dem blauen Nachmittagshimmel entgegenzurecken.
«Ja, da ist sie wieder. Der schwarze Schatten entfernt sich», riefen sie. «Seht doch, da ist das Sonnenlicht.»
Tatsächlich schwand die trübe Dämmerung, und das Sonnenlicht flutete wieder durch die Fenster.
Schwester Fidelma schüttelte den Kopf. Das Geschehen war ihr ein Rätsel. Schließlich war sie in einem Land aufgewachsen, in dem die Bewegungen der Gestirne schon seit langem beobachtet und aufgezeichnet wurden.
«Ich kann kaum glauben, daß die Menschen hier in solchem Unwissen leben. In unseren Barden- und Klosterschulen kann jede Lehrerin und jeder Lehrer den Lauf von Sonne und Mond erklären. Jeder halbwegs vernünftige Mensch sollte doch über den Stand der Sonne im Laufe eines Jahres, die Phasen des Mondes und die Zeiten von Ebbe und Flut Bescheid wissen. Und die Sonnenfinsternisse sind dann auch kein Geheimnis mehr.»
Bruder Taran grinste.
«Ihr vergeßt, daß Euer Volk für seine Kenntnisse auf dem Gebiet der Astronomie berühmt ist, während die Sachsen noch Barbaren sind.»
«Aber sie haben doch sicherlich die Abhandlungen des großen Dallan Forgaill gelesen, der erklärt hat, wie oft der Mond vor der Sonne steht und deshalb ihr Licht verdeckt?»
Taran zuckte die Achseln.