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«Nur wenige Sachsen können lesen und schreiben. Und das auch erst, seitdem der selige Aidan ins Land kam und sie darin unterrichtete. Bis dahin konnten sie nicht einmal ihre eigene Sprache niederschreiben, geschweige denn die Sprachen anderer Völker verstehen.»

Äbtissin Hilda schlug mit ihrem Amtsstab auf den Steinfußboden, um die Versammlung zur Ruhe zu gemahnen. Zögernd kehrten die Teilnehmer zu ihren Plätzen zurück, und das Gemurmel erstarb.

«Das Licht ist zurückgekehrt, also können auch wir fortfahren. Weilt die Äbtissin von Kildare inzwischen unter uns?» Fidelmas Gedanken wandten sich wieder ihrer Freundin zu. Der ihr zugedachte Platz war noch immer leer.

Hämisch grinsend erhob sich Wilfrid von Ri-pon.

«Wenn die Sprecherin Columbans nicht willens ist, zu uns zu sprechen, können wir getrost auch ohne sie anfangen.»

«Es gibt noch genügend andere, die für unsere Sache sprechen werden!» rief Cuthbert zurück und machte sich dabei nicht einmal die Mühe, von seinem Platz aufzustehen.

Wieder klopfte Äbtissin Hilda mit ihrem Amtsstab auf den Boden.

In diesem Augenblick schwang zum zweitenmal die große Tür auf. Diesmal war es eine junge Schwester, die kreidebleich und mit aufgerissenen Augen ins sacrarium stürzte. Auf den ersten Blick konnte man erkennen, daß sie schnell gelaufen war - ihr Haar war in Unordnung, und ihre Kopfbedeckung war verrutscht. Verängstigt suchte sie nach Äbtissin Hilda, die unmittelbar vor dem Thron des Königs stand.

Besorgt sah Fidelma, wie die Schwester zu Hilda eilte, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Leider konnte sie Hildas Gesicht nicht sehen, da die Äbtissin gleich darauf zum König ging, sich zu ihm beugte und die Nachricht der Schwester wiederholte.

Einen Augenblick lang herrschte gespannte Stille. Dann erhob sich der König und verließ, gefolgt von Hilda, Abbe, Colman, Deusdedit, Wighard und Jakobus, das sacrarium.

Kaum waren sie gegangen, brach allgemeiner Aufruhr los. Die Versammelten bestürmten einander mit Fragen. Jeder wollte wissen, ob jemand die Bedeutung dieser seltsamen Vorgänge zu deuten vermochte, und bald schwirrten die wildesten Vermutungen durch den Saal.

Zwei Nonnen aus Coldingham, die hinter Fidelma saßen, vertraten die Ansicht, ein Heer von Bretonen müsse den Aufenthalt des Königs bei der Synode genutzt und das Königreich überfallen haben; sie könnten sich noch gut an die Invasion von Cadwallon ap Cadfan, dem König von Gwynedd, erinnern, bei der Northumbrien verwüstet worden sei und viele ihr Leben gelassen hätten.

Ein Bruder aus Gilling, der vor Fidelma saß, hielt dagegen einen Überfall durch die Armee von Mer-cia für viel wahrscheinlicher; schließlich habe Wulfhere, der Sohn Pendas, geschworen, die Unabhängigkeit Mercias wiederherzustellen, und seine Herrschaft südlich des Humber bereits festigen können. Mercia lauere ständig auf eine Gelegenheit, sich an Oswiu zu rächen, der Penda getötet und vor drei Jahren die Herrschaft über Mercia angetreten hatte. Zwar habe Wulfhere einen Abgesandten zur Synode geschickt, doch könne sich dahinter nichts weiter als ein geschicktes Ablenkungsmanöver verbergen.

Fidelma war erstaunt über all die politischen Spekulationen. Auf jemanden, der mit dem Machtkampf der sächsischen Königreiche untereinander nicht vertraut war, wirkten sie höchst verwirrend. Wie anders war es in dieser Hinsicht doch in ihrem Heimatland, wo eine klare Ordnung herrschte, der Hochkönig von allen anerkannt wurde und das Gesetz in allen Dingen das letzte Wort hatte. Auch wenn manche Unterkönige untereinander uneins waren, die Herrschaft Taras zweifelte niemand an. Die Sachsen hingegen lagen ständig miteinander im Streit, und als oberstes Gesetz schien bei ihnen das Schwert zu gelten.

Fidelma spürte, wie sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Eine junge Schwester beugte sich zu ihr herab.

«Schwester Fidelma? Die Mutter Oberin wünscht Euch unverzüglich zu sehen.»

Erstaunt erhob sich Fidelma von ihrem Platz. Bruder Tarans und Schwester Gwids neugierige Blicke folgten ihr, als sie in Begleitung der jungen Ordensschwester das von lauten, aufgeregten Stimmen widerhallende sacrarium verließ und durch die ruhigeren Flure zum Gemach der Äbtissin eilte. Mit gefalteten Händen stand Äbtissin Hilda vor dem großen Kamin. Ihr Gesicht war bleich und ernst. Bischof Colman hatte, genau wie am Abend zuvor, auf einem Stuhl vor dem Kamin Platz genommen. Auch er wirkte wie von einer schweren Last niedergedrückt.

Beide waren so tief in Gedanken versunken, daß sie Fidelmas Ankunft kaum bemerkten.

«Ihr habt mich rufen lassen, Mutter Oberin?»

Äbtissin Hilda richtete sich seufzend auf und sah Colman an, der sie mit einer Handbewegung zum Sprechen aufforderte.

«Bischof Colman hat mich daran erinnert, daß Ihr in Eurem Land eine angesehene Gesetzeskundige seid, Fidelma.»

Schwester Fidelma runzelte die Stirn.

«Das ist richtig», bestätigte sie und fragte sich, worauf die Äbtissin hinauswollte.

«Er hat mich auch daran erinnert, daß Ihr die

Gabe besitzt, Rätsel zu lösen und undurchsichtige Verbrechen aufzuklären.»

Eine ungute Vorahnung beschlich Fidelma.

«Meine liebe Schwester», fuhr die Äbtissin nach einer Pause fort, «auf diese Gabe sind wir nun angewiesen.»

«Ich bin gern bereit, Euch mit meinen bescheidenen Fähigkeiten zu Diensten zu sein», erwiderte Fidelma.

Äbtissin Hilda rang die Hände und suchte nach den passenden Worten.

«Ich habe schlechte Nachrichten, Schwester Fidelma. Äbtissin Etain von Kildare wurde in ihrer Zelle gefunden, und zwar mit durchgeschnittener Kehle. Was wir gesehen haben, läßt nur eine Deutung zu: Äbtissin Etain ist heimtückisch ermordet worden.»

VI

WÄHREND SCHWESTER FIDELMA VON

der schrecklichen Nachricht noch immer wie benommen war, ging die Tür auf, und Fidelma nahm verschwommen wahr, daß Colman sich eilig von seinem Stuhl erhob. Um zu sehen, was den Bischof zu dieser ungewöhnlichen Geste veranlaßt hatte, wandte sie sich zur Tür.

Oswiu von Northumbrien betrat das Zimmer.

Die Ereignisse hatten sich überstürzt, und für Fidelma war alles viel zu schnell gegangen. Sie hatte noch gar nicht richtig begriffen, daß ihre jahrelange Gefährtin, ihre Glaubensschwester und Äbtissin, einem grausamen Mord zum Opfer gefallen war. Im ersten Augenblick hatte sie sich wie gelähmt gefühlt. Jetzt spürte sie eine unendliche Trauer in sich aufsteigen, und doch versuchte sie mit aller Macht, ihre Gefühle zu unterdrücken. Es würde Etain nicht helfen, wenn sie jetzt in Trübsinn versank. Ihr Verstand war gefragt, ihre Kenntnisse und Begabungen waren gefordert, und Gefühle würden ihren Scharfsinn nur trüben. Zum Trauern hatte sie später noch reichlich Zeit.

Entschlossen sah Fidelma dem Neuankömmling entgegen.

Von nahem wirkte der König von Northumbrien längst nicht so imposant wie aus der Ferne. Zwar war er groß und muskulös, aber sein helles Haar hatte eine schmutzig gelb-graue Farbe, und die Zeichen des Alters waren nicht zu übersehen.

Seine Haut war gelblich, und unzählige aufgeplatzte Äderchen bildeten ein Netz aus feinen hellroten Linien auf seinen Wangen. Seine Augen waren eingesunken, seine Stirn von Falten zerfurcht. Fidelma hatte gehört, daß bisher noch jeder König von Northumbrien einen gewaltsamen Tod auf dem Schlachtfeld gestorben war. Es war ein Vermächtnis, das schwer auf ihm lastete.

Mit gehetztem Blick schaute Oswiu sich um und ließ die Augen schließlich auf Schwester Fidelma ruhen.

«Ich habe gehört, daß Ihr eine dalaigh der Bre-hon-Gerichtsbarkeit Irlands seid?»

Zu Fidelmas Erstaunen beherrschte er die irische Sprache fast wie ein Einheimischer. Dann fiel ihr ein, daß er in Iona aufgewachsen war und mit den dortigen Ordensbrüdern vermutlich nur Irisch gesprochen hatte.