«Ja, ich habe den Rang einer anruth inne.»
Colman trat einen Schritt vor, um es dem König zu erklären. «Das bedeutet ...»
Mit einer ungeduldigen Geste wehrte Oswiu ab.
«Ich weiß sehr genau, was das bedeutet, Bischof. Wer den Rang einer anruth erlangt hat, beherrscht das allerhöchste Wissen und kann auf gleicher Stufe mit Königen - ja, sogar mit dem Hochkönig selbst -Dispute führen.» Er lächelte selbstzufrieden über die Verlegenheit des Bischofs, ehe er sich wieder an Fidelma wandte. «Und doch bin ich, wie ich offen gestehen muß, erstaunt, einen so gelehrten Kopf auf diesen jungen Schultern vorzufinden.»
Fidelma unterdrückte ein Seufzen.
«Ich habe acht Jahre lang beim Brehon Morann von Tara studiert, einem der größten Richter unseres Landes.»
Oswiu nickte geistesabwesend.
«Ich wollte Eure Eignung nicht in Frage stellen, und Bischof Colman hat mir von Eurem ausgezeichneten Ruf erzählt. Ihr wißt bereits, daß wir Euch brauchen?»
Schwester Fidelma senkte den Kopf.
«Man hat mir gesagt, daß Etain von Kildare ermordet wurde. Sie war nicht nur meine Äbtissin, sondern auch meine Freundin. Ich bin zur Hilfe bereit.»
«Wie Ihr wißt, sollte Äbtissin Etain die Debatte für die Kirche Ionas eröffnen. Mein Land ist in dieser Frage gespalten, Schwester Fidelma. Deshalb ist diese Angelegenheit von allergrößter Wichtigkeit. Schon jetzt gehen die wildesten Gerüchte um, und die Mutmaßungen überschlagen sich. Wenn die Äbtissin von einem Mitglied der römischen Gesandtschaft ermordet wurde, wie es unter den gegebenen Umständen naheliegend erscheint, könnte es in meinem Volk zu einem so großen Bruch kommen, daß es der Wahrheit Christi in unserem Land den Todesstoß versetzt. Ein Bruderkrieg droht, mein Volk auseinanderzureißen. Versteht Ihr das?»
«Ja», antwortete Fidelma. «Und doch gibt es etwas Wichtigeres, an das wir denken müssen.»
Oswiu hob erstaunt die Augenbrauen.
«Was könnte wichtiger sein als eine politische Zerreißprobe, die Iona, Armagh, ja möglicherweise sogar das ferne Rom erschüttern könnte?»
«Es gibt etwas, das wichtiger ist», beharrte Fidelma mit ruhiger Stimme. «Wer auch immer Etain von Kildare ermordet hat, muß sich vor dem Gesetz verantworten. Das ist das oberste Ziel, die wichtigste Moral. Was andere daraus machen, ist ihre Sache. Die Suche nach der Wahrheit steht über allen Dingen.»
Einen Augenblick sah Oswiu sie überrascht an, dann lächelte er reuevoll.
«Das sind die Worte einer unerschrockenen Vertreterin des Rechts. Fast hätte ich vergessen, daß die Brehon-Richter Eures Landes über dem Königshof stehen. Hier bei uns ist der König das Gesetz, und es gibt niemanden, der über ihn zu Gericht sitzen könnte.»
Fidelma verzog das Gesicht.
«Ich habe von den Mängeln Eurer sächsischen Ordnung gehört.»
Äbtissin Hilda fuhr erschrocken zusammen.
«Mein Kind, vergeßt nicht, daß Ihr mit dem König sprecht.»
Aber Oswiu grinste nur.
«Es gibt keinen Grund, sie zu tadeln, werte Base. Schwester Fidelma handelt in Übereinstimmung mit den Grundsätzen ihres Landes. In Irland wirkt der König nicht als Gesetzgeber, und er herrscht auch nicht durch göttliches Recht. Er ist nur der Verwalter eines Gesetzes, das von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Jeder Gesetzeskundige, ein anruth oder ollamh, kann mit dem höchsten König des Landes rechtliche Streitgespräche führen. Ist es nicht so, Schwester Fidelma?»
Fidelma lächelte.
«Ihr habt gut begriffen, worum es uns geht, Oswiu von Northumbrien.»
«Und Ihr scheint einen scharfen Verstand zu besitzen und ohne Furcht vor einer der Parteien zu sein», entgegnete Oswiu. «Das ist gut. Meine Base hat Euch sicherlich schon gebeten, das Verbrechen aufzuklären und herauszufinden, wer Etain von Kildare ermordet hat? Wie lautet Eure Antwort? Werdet Ihr die Sache untersuchen?»
In diesem Augenblick war ein lautes Knarren zu hören. Schwester Gwid stand zitternd und verkrampft in der offenen Tür. Ihr Haar unter der Haube war zerrauft, ihre Lippen bebten, ihre Augen waren rot, und dicke Tränen liefen ihr über die bleichen Wangen. Laut schluchzend blickte sie wirr von einem zum anderen.
«Was zum ...?» hob Oswiu überrascht an.
«Ist es wahr? O Gott, sagt mir, daß es nicht wahr ist!» schrie die verzweifelte Ordensschwester und rang verzweifelt die großen, knochigen Hände. «Ist Äbtissin Etain tot?»
Schwester Fidelma erholte sich als erste von dem Schrecken, eilte zu Schwester Gwid, nahm sie am Arm und zog sie mit sich aus dem Zimmer. Draußen auf dem Flur winkte sie der besorgten Schwester zu, die für Äbtissin Hildas Wohl zuständig war und offenbar vergeblich versucht hatte, Gwid davon abzuhalten, in das Gemach zu stürmen.
«Es ist wahr, Gwid», sagte Fidelma leise. Sie verspürte Mitleid mit dem linkischen Mädchen. «Laßt Euch von der Schwester in Euer dormitori-um bringen. Legt Euch eine Weile hin, und ich werde zu Euch kommen, sobald ich kann.»
Schluchzend ließ sich Gwid den Flur hinunterführen. Ihre breiten Schultern zuckten in schwerer Pein.
Einen Augenblick hielt Fidelma inne, ehe sie sich zurück ins Gemach der Äbtissin begab.
«Äbtissin Etain war in Emly Schwester Gwids Lehrerin», erklärte sie den anderen, als sie mit fragenden Blicken empfangen wurde. «Gwid sollte der Äbtissin während der Versammlung als Sekretärin zur Seite stehen. Sie hat Etain sehr verehrt und ist über ihren Tod verständlicherweise bestürzt. Wir alle haben mit unserer Trauer zu kämpfen.»
Äbtissin Hilda seufzte mitfühlend.
«Ich werde das arme Mädchen später trösten gehen», sagte sie. «Laßt uns vorher jedoch in dieser Sache zu einer Übereinkunft kommen.»
Oswiu nickte. «Was sagt Ihr zu dem Vorschlag, Fidelma von Kildare?»
Fidelma nickte.
«Äbtissin Hilda hat bereits angedeutet, daß ich in diesem Fall ermitteln soll. Ich bin dazu gerne bereit, wenn auch nicht aus politischen Gründen, sondern weil ich dem Gesetz zu seinem Recht verhelfen will - und weil Etain meine Freundin war.»
«Das war wohl gesprochen», entgegnete Oswiu. «Doch spielt Politik in dieser Sache unweigerlich eine große Rolle. Der Mord an einer so herausragenden Persönlichkeit kann in der Absicht geschehen sein, auf unsere Debatte Einfluß zu nehmen. Am naheliegendsten ist sicherlich die Vermutung, daß die Sprecherin Ionas von einem Anhänger Roms zum Schweigen gebracht wurde. Andererseits kann es durchaus sein, daß der Mörder gerade diese Vermutung schüren wollte, damit die Synode aus Mitgefühl Iona gegen Rom unterstützt.»
Schwester Fidelma betrachtete Oswiu nachdenklich. Vor ihr stand kein prunksüchtiger Monarch mit einfältigem Gemüt, sondern ein König, der mit eiserner Faust über zwanzig Jahre lang in Northumbrien geherrscht hatte und jeden von außen oder innen kommenden Versuch, ihn auszuschalten und vom Thron zu stoßen, erfolgreich vereitelt hatte. Inzwischen erkannten die meisten sächsischen Könige ihn als ihren Führer an, und selbst der Bischof von Rom titulierte ihn als «König der Sachsen». Fidelma schätzte die Schärfe seines Verstands.
«Das wird sich dann aus meiner Untersuchung ergeben», sagte sie ruhig.
Oswiu zögerte und schüttelte den Kopf.
«Nicht ganz.»
Fidelma hob fragend die Augenbrauen.
«Es gibt eine Bedingung.»
«Ich bin eine Gesetzeskundige der Brehon-Gerichtsbarkeit. Ich arbeite nicht unter irgendwelchen Bedingungen. Ich bin einzig und allein der Wahrheit verpflichtet.» Ihre Augen blitzten gefährlich.
Äbtissin Hilda war entsetzt.
«Schwester, Ihr scheint zu vergessen, daß Ihr nicht in Eurem Heimatland seid, dessen Gesetze hier keine Gültigkeit besitzen. Ihr müßt dem König mit Respekt begegnen.»
Wieder lächelte Oswiu nachsichtig.