«Die beste Möglichkeit, dieses Verständnis zu gewinnen, besteht darin, zusammenzuarbeiten und den anderen kennenzulernen. Wollen wir es versuchen?»
Schwester Fidelma schaute in die tiefbraunen Augen des sächsischen Mönchs und spürte, daß sie errötete. Wieder empfand sie die seltsame Erregung, die schon während ihrer Begegnung am Vorabend ihren gesamten Körper ergriffen hatte.
«Also gut», antwortete sie kühl, «wir werden es versuchen. Wir werden unsere Ideen und unser Wissen teilen und alle Schritte miteinander abstimmen. Aber jetzt sollten wir zum Nordtor gehen und uns mit Schwester Athelswith treffen. Ich finde es hier drinnen sehr bedrückend und würde gern unter freiem Himmel sein und den Seewind auf meinen Wangen spüren.»
Ohne einen weiteren Blick auf die Zelle oder die tote Etain ging Fidelma hinaus. Nur wenn sie alle ihre Gedanken auf die Aufklärung des Mords richtete, könnte sie zumindest vorübergehend ihre Trauer überwinden.
Am Nordtor des Klosters hatte sich eine große Menschenmenge versammelt. Ringsherum waren Marktbuden aufgebaut, an denen die örtlichen Kaufleute sich anschickten, aus der Zusammenkunft berühmter Kirchenführer und Prinzen der verschiedensten Königreiche Britanniens einen hübschen Gewinn zu schlagen.
Eine johlende Menge hatte sich um einen Bettler geschart, der, seiner Stimme und seinem Äußeren nach zu urteilen, aus Irland stammte. Die Leute verhöhnten ihn, während der Bettler düstere Prophezeiungen ausstieß. Fidelma schüttelte den Kopf, als sie erkannte, daß es der gleiche Mann war, den sie am Vorabend von ihrem Fenster aus gesehen hatte.
Wo man auch hinging, stieß man derzeit auf Wahrsager und selbsternannte Propheten, die Katastrophen verkündeten und Schicksalsschläge heraufbeschworen. Eigentlich glaubte niemand wirklich an Prophezeiungen, es sei denn, sie waren so grausig, daß man sich so richtig vor ihnen fürchten konnte. Die Angst vor Vernichtung und Verdammnis zog die Menschen immer wieder in ihren Bann. Die menschliche Seele war unergründlich.
Eine Weile blieben Fidelma und Eadulf wartend stehen, dann saugte das Marktgeschehen auch sie in sich auf, und ehe sie sich’s versahen, hatte die bunte Menschenmenge sie mit sich fortgetragen. Sie schlenderten zwischen den vielen Zelten und Buden hindurch, die vor den hohen Klostermauern von Streoneshalh wie Pilze aus dem Boden geschossen waren.
Die Luft war würzig und roch nach Salzwasser. Trotz der vorgerückten Stunde machten die Kaufleute ein gutes Geschäft. In der Menge, die rund um die Marktstände Zerstreuung suchte, befanden sich viele wohlhabende Edelmänner, Thane, Prinzen und Unterkönige. Jenseits des Marktes, auf beiden Seiten des Tales, durch das ein breiter Fluß zum Meer floß, ragten dunkle Berge in den Himmel. Auf ihren Hängen hatte man zahlreiche Zelte errichtet, deren Wimpel von der edlen Herkunft ihrer Bewohner kündeten.
Fidelma erinnerte sich, daß Bruder Taran ihr erzählt hatte, die Synode habe nicht nur königliche Gesandte aus allen Königreichen der Angeln und Sachsen, sondern auch aus den Königreichen der Bretonen angezogen, die mit den Sachsen ständig im Krieg lagen. Eadulf erkannte mehrere Wimpel fränkischer Edelmänner, die eigens das Meer überquert hatten, um an der Synode teilzunehmen, und Fidelma sah Wimpel aus Dal Riada und den Ländern der Cruthin, welche die Sachsen Pikten nannten. Es mußte sich wahrhaftig um eine wichtige Debatte handeln, wenn sie so viele Nationen anzog. Oswiu hatte recht - die Entscheidung von Streoneshalh würde für die nächsten Jahrhunderte über die Zukunft des Christentums nicht nur in Northumbrien, sondern in allen sächsischen Königreichen bestimmen.
Ganz Witebia schien von einer fröhlichen Karnevalsstimmung erfaßt. Eine bunte Truppe aus fahrenden Spielleuten, Gauklern, Kaufleuten und Händlern drängte in die Stadt. Bruder Eadulf meinte, die Preise, die sie verlangten, seien unverschämt hoch, und jeder, der die Gastfreundschaft des Klosters genieße, könne sich glücklich schätzen.
An den Marktständen wechselten Gold- und Silbermünzen den Besitzer. Ein friesischer Kaufmann ergriff die Gelegenheit, seiner hochgestellten Kundschaft eine ganze Schiffsladung Sklaven zu verkaufen. Bauern, gewöhnliche Freie und andere Schaulustige verfolgten das Geschehen neugierig. Wie sie sehr wohl wußten, konnte es nur allzu rasch geschehen, daß eine ganze Familie sich durch die Wirren eines Krieges oder Bruderkrieges plötzlich in der Gefangenschaft wiederfand und von den Eroberern in die Sklaverei verkauft wurde.
Fidelma betrachtete das Geschehen mit unverhohlenem Widerwillen.
«Es macht mich beklommen, wenn ich sehe, daß Menschen wie Tiere verhökert werden.»
Zum erstenmal befand sich Eadulf mit ihr in völliger Übereinstimmung.
«Wir Christen predigen schon seit langem, daß es unrecht ist, wenn ein Mensch einen anderen Menschen als Eigentum besitzt. Wir sammeln sogar Geld, um Sklaven freizukaufen, von denen bekannt ist, daß sie Christen sind. Doch viele, die sich Christen nennen, sind gegen die Abschaffung der Sklaverei, und die Kirche hat es sich leider nicht zur Aufgabe gemacht, die Sklaverei zu beenden.»
Fidelma war erfreut, daß sie in dieser Hinsicht einer Meinung waren.
«Ich habe gehört, selbst Deusdedit, Euer sächsischer Erzbischof von Canterbury, habe gesagt, Sklaven würden in wohlhabenden Haushalten besser ernährt und untergebracht als freie Arbeiter und Bauern. Außerdem sei die Freiheit eines Bauern eher relativ als tatsächlich. Solche Ansichten wären bei einem irischen Bischof unvorstellbar. Bei uns ist die Sklaverei per Gesetz verboten.»
«Und doch haltet Ihr Geiseln, und es gibt Menschen, die Ihr als Unfreie bezeichnet», erwiderte Eadulf. Er hatte plötzlich das Gefühl, die sächsische Sklaverei verteidigen zu müssen, obwohl er sie ablehnte, einfach weil sie sächsisch war. Ihm gefiel nicht, daß eine Fremde mißbilligend über sein Land herzog und sich dabei so überlegen gab.
Fidelma errötete vor Zorn.
«Ihr habt in Irland studiert, Bruder Eadulf, und Ihr kennt unsere Sitten. Wir haben keine Sklaven. Wer unsere Gesetze übertritt, kann für einen bestimmten Zeitraum seine Rechte verlieren, aber er wird nicht aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Er wird lediglich gezwungen, zum Wohle des Volkes zu arbeiten, bis sein Verbrechen gesühnt ist. Einige Unfreie bestellen sogar ihr eigenes Land und bezahlen Steuern. Geiseln und Kriegsgefangene bleiben so lange bei uns und arbeiten für die Gemeinschaft, bis ein Tribut oder Lösegeld bezahlt worden ist. Doch wie Ihr sehr gut wißt, Eadulf, werden bei uns selbst die niedrigsten der Unfreien als vernunftbegabte Wesen behandelt, als Menschen mit Rechten und Gefühlen, nicht bloß als bewegliches Eigentum, wie bei Euch in Sachsen die Sklaven.»
Bruder Eadulf öffnete den Mund, um zur wütenden Verteidigung einer Sitte anzusetzen, die er im Grunde zutiefst verabscheute.
«Bruder Eadulf! Schwester Fidelma!»
Eine atemlose Stimme unterbrach ihr Gespräch.
Sie wandten sich um. Als sie Schwester Athels-with keuchend herannahen sah, bekam Fidelma ein schlechtes Gewissen.
«Ich dachte, wir wollten uns am Nordtor treffen», stieß die Schwester atemlos hervor.
«Es tut mir leid», sagte Fidelma zerknirscht. «Wir haben uns wohl vom bunten Markttreiben ablenken lassen.»
Schwester Athelswith verzog tadelnd das Gesicht.
«Ihr tätet gut daran, diesen Sündenpfuhl zu meiden, Schwester. Doch da Ihr in der Gegend fremd seid, kann ich auch verstehen, daß unsere northumbrischen Märkte Euch vielleicht noch etwas Neues bieten können.»
Sie drehte sich um und führte sie aus dem Teil des Klostergeländes, das für den Markt zur Verfügung gestellt worden war. Gemeinsam gingen sie östlich auf den Kamm der dunklen Klippen zu, die den Hafen von Witebia überragten. Die Sonne stand bereits tief am westlichen Himmel, und die Schatten wurden immer länger.