«Nun, Schwester Athelswith ...», begann Fidelma. Aber die domina des Gästehauses unterbrach sie mit noch immer atemloser Stimme.
«Ich war bei Bruder Edgar, unserem Medikus. Er wird noch in dieser Stunde die Autopsie vornehmen.»
«Gut», nickte Bruder Eadulf zufrieden. «Ich bezweifle zwar, daß er noch etwas finden wird, was uns entgangen ist, aber es ist stets das beste, wenn die Leiche sorgfältig untersucht wird.»
«Als Verwalterin des Gästehauses», ergriff Fidelma das Wort, «weist Ihr den Gästen ihre cubicu-la zu. Verfahrt Ihr dabei nach bestimmten Regeln?»
«Viele unserer Gäste haben rund um das Kloster ihre Zelte aufgeschlagen. Trotzdem sind unsere Schlafsäle überfüllt. Die cubicula sind ganz besonderen Gästen vorbehalten.»
«Und Ihr habt Äbtissin Etain ihre Kammer zugewiesen?»
«Jawohl.»
«Auf welcher Grundlage?»
Schwester Athelswith blinzelte verwirrt.
«Ich verstehe Eure Frage nicht.»
«Gab es irgendwelche besonderen Gründe, Etain von Kildare gerade in diesem cubiculum unterzubringen?»
«Nein. Die Kammern werden den Gästen nach ihrem Rang zugeteilt. Bischof Colman zum Beispiel bat darum, daß man Euch wegen Eures Ranges ebenfalls ein cubiculum gibt.»
«Ich verstehe. Und wer hatte die beiden cubicu-la neben der Äbtissin?»
Schwester Athelswith brauchte nicht lange nachzudenken.
«Auf der einen Seite Äbtissin Abbe von Col-dingham, auf der anderen Bischof Agilbert, der Franke.»
«Also eine überzeugte Verfechterin der Kirche Columbans», sagte Bruder Eadulf, «und ein erklärter Anhänger Roms.»
Fidelma hob die Augenbrauen und sah ihn fragend an. Eadulf zuckte mit den Achseln.
«Ich sage dies nur, Schwester Fidelma, falls Ihr nach pro-römischen Schuldigen sucht.»
«Ich suche nach der Wahrheit, Bruder», ent-gegnete Fidelma gereizt und wandte sich dann wieder der sichtlich verwirrten Athelswith zu: «Wird irgendwie festgehalten, wer die cubicula Eurer Gäste besucht? Oder kann jedermann nach Gutdünken das Gästehaus betreten und auch wieder verlassen?»
Schwester Athelswith hob die Schultern.
«Warum sollten wir so etwas festhalten? Im Hause Gottes kann jeder nach Belieben kommen und gehen.»
«Männer und Frauen?»
«Streoneshalh ist ein Doppelhaus. Männer und Frauen dürfen einander in ihren cubicula besuchen, wann immer sie wollen.»
«Ihr habt also keine Kenntnis davon, wer die Äbtissin Etain in ihrer Kammer besucht hat?»
«Was den heutigen Tag betrifft, weiß ich von sieben Besuchern», antwortete die ältere Schwester selbstzufrieden.
Fidelma versuchte, ihre Aufregung zu verbergen.
«Und wer waren diese sieben?» fragte sie betont ruhig.
«Bruder Taran, der Pikte, und Schwester Gwid, die Sekretärin der Äbtissin, kamen bereits am Morgen. Gegen Mittag erschienen Äbtissin Hilda und Bischof Colman. Später verlangte dann ein Bettler, ein Landsmann von Euch, Schwester Fidelma, die Äbtissin zu sehen. Er machte ein solches Spektakel, daß er mit Gewalt fortgeschafft werden mußte. Es war der gleiche Bettler, der gestern morgen auf Befehl Äbtissin Hildas ausgepeitscht worden war, weil er die Ruhe des Klosters gestört hatte.»
Sie hielt inne.
«Ihr habt von sieben Personen gesprochen», drängte Schwester Fidelma sanft.
«Fehlen noch die Brüder Seaxwulf und Agatho. Seaxwulf ist der Sekretär von Wilfrid von Ripon.»
«Und wer ist Agatho?»
Es war Eadulf, der darauf die Antwort wußte.
«Agatho ist ein Priester im Dienst des Abts von Icanho. Jemand hat ihn mir heute morgen als ziemlich eigenwilligen Burschen beschrieben.»
«Ein Mitglied der römischen Gesandtschaft also?» schloß Fidelma. Eadulf nickte kurz.
«Könnt Ihr ungefähr die Zeit benennen, wann diese Besucher bei der Äbtissin waren? Und wißt Ihr auch, wer als letzter bei ihr gewesen ist?»
Schwester Athelswith rieb sich die Nase, als könnte sie damit ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen.
«Schwester Gwid ist am frühen Morgen dagewesen. Ich erinnere mich noch gut daran, denn Äbtissin Etain und sie standen an der offenen Tür des cubicu-lum und stritten sich heftig. Schließlich ist Schwester Gwid in Tränen ausgebrochen und an mir vorbei den Flur entlang in ihr dormitorium gerannt. Ein ziemlich überspanntes Mädchen. Ich nehme an, die Äbtissin hatte allen Grund, sie zu tadeln. Dann kam Bruder Taran. Äbtissin Hilda und Bischof Colman trafen gemeinsam ein, und als die Glocke zum pran-dium läutete, begleiteten sie Äbtissin Etain ins Refektorium. Der Bettler tauchte nach dem Mittagessen auf. Um diese Zeit muß auch Bruder Seaxwulf dagewesen sein, aber ich bin mir nicht mehr sicher, ob es vor oder nach dem Mittagessen war. Der letzte Besucher, an den ich mich erinnere, war Bruder Aga-tho. Er kam am frühen Nachmittag.»
Fidelma hatte dem Bericht der älteren Frau mit einem leichten Schmunzeln gelauscht. Schwester Athelswith war offenbar recht übereifrig, was ihre Aufgaben als Verwalterin des Gästehauses betraf, und verfolgte ganz genau, wer ihr Refügium betrat.
«Dieser Agatho war also Eures Wissens nach der letzte, der Äbtissin Etain lebend gesehen hat?»
«Falls er tatsächlich der letzte Besucher war», sprang Eadulf in die Bresche.
Schwester Fidelma lächelte sanft.
«Natürlich.»
Schwester Athelswith machte ein unglückliches Gesicht.
«Ich habe nach Bruder Agatho keinen Besucher mehr gesehen», erwiderte sie schließlich mit fester Stimme.
«Könnt Ihr denn von dort aus, wo Ihr Euch aufhaltet, alle Besucher sehen?» wollte Eadulf wissen.
«Nur wenn ich in meinem officium bin», antwortete sie und errötete leicht. «Ich habe viel zu tun. Domina des Gästehauses zu sein ist eine große Verantwortung. Für gewöhnlich beherbergen wir höchstens vierzig Pilger auf einmal. Ein Bruder und drei Schwestern stehen mir bei der Erledigung meiner Pflichten zur Seite. Wir müssen die dormitoria und cubicula sauberhalten, die Betten machen und darauf achten, daß unsere hochgestellten Besucher auch mit allem zufrieden sind. Deshalb bin ich oft im Gästehaus, um nachzusehen, ob auch alle Aufgaben erfüllt werden. Wenn ich jedoch in meinem officium bin, kann mir niemand entgehen, der ins Gästehaus geht oder es verläßt.»
Fidelma lächelte beruhigend. «Und das ist unser Glück.»
«Würdet Ihr einen Eid darauf schwören», drängte Eadulf weiter, «daß niemand sonst bei Äbtissin Etain gewesen ist?»
Schwester Athelswith schob trotzig das Kinn vor.
«Natürlich nicht. Wie ich schon sagte, bei uns steht es jedermann frei, zu kommen und zu gehen, wie es ihm beliebt. Ich kann nur bestätigen, daß die von mir genannten Personen bei der Äbtissin von Kildare gewesen sind.»
«Und wann und von wem wurde die Leiche entdeckt?»
«Ich selbst habe sie gefunden, und zwar heute abend um halb sechs.»
Fidelma zeigte offen ihr Erstaunen.
«Wie könnt Ihr Euch dieses Zeitpunkts so sicher sein?»
Schwester Athelswith schwoll sichtlich vor Stolz.
«Zu den Pflichten der domina des domus hospitale von Streoneshalh gehört auch das Zeitnehmen. Das heißt, ich muß dafür sorgen, daß unsere Klepsydra immer richtig geht.»
Bruder Eadulf runzelte verwirrt die Stirn.
«Eure was?»
«Klepsydra ist das griechische Wort für eine Wasseruhr», erklärte Fidelma und gönnte sich dabei einen leicht herablassenden Ton.
«Einer unserer Glaubensbrüder hat sie aus dem Osten mit gebracht», sagte Schwester Athelswith stolz. «Es ist ein Mechanismus, bei dem die Zeit durch das Auslaufen von Wasser gemessen wird.»