Schwester Athelswith war es auch, die sie hinunter ins hypogeum führte, wie sie das riesige unterirdische Gewölbe des Klosters nannte. Über eine steinerne Wendeltreppe gelangten sie in einen großen Kellerraum mit einer hohen Decke. Durch dunkle Torbögen konnte man von hier aus in weitere unterirdische Räume gelangen. Eine Öllampe in der zitternden Hand, ging Athelswith ihnen durch ein Labyrinth modrig riechender Gänge voraus, bis sie zu den Katakomben kamen, wo in langen Reihen von Steinsarkophagen die Toten der Abtei bestattet lagen. Der unverwechselbare und doch schwer zu beschreibende Geruch des Todes lag in der Luft.
Als sie plötzlich einen menschlichen Klagelaut hörten, blieb Athelswith wie angewurzelt stehen und vollführte eine hastige Kniebeuge.
Schwester Fidelma legte der furchtsamen domina eine Hand auf den Arm. «Das ist jemand, der um die Tote weint», sagte sie mit besänftigender Stimme.
Zögernden Schrittes führte Schwester Athelswith sie weiter voran.
Bald darauf wurde klar, woher das Schluchzen kam. In einer kleinen Nische im hinteren Teil der Katakomben brannten zwei Kerzen. Dort hatte man den Leichnam von Äbtissin Etain aufgebahrt. In ein schlichtes Totenhemd gekleidet, lag sie auf einer Steinplatte. Zu ihren Füßen kauerte Schwester Gwid. Ein ums andere Mal erhob sich das Mädchen schluchzend, warf sich auf den Boden und schrie: «Domine miserere peccatrice!»
Schwester Athelswith wollte zu ihr gehen, aber Fidelma hielt sie zurück.
«Lassen wir sie ruhig noch eine Weile mit ihrer Trauer allein.»
Die domina senkte den Kopf und führte sie weiter.
«Die arme Schwester ist völlig verzweifelt. Sie muß wirklich sehr an der Äbtissin gehangen haben», bemerkte sie nach einer Weile.
«Jeder von uns hat seine eigene Art zu trauern», erwiderte Fidelma.
Jenseits der Katakomben befand sich eine Reihe von Lagerräumen mit dem Weinkeller, auch apothe-ca genannt, in dem große, aus Franken, Gallien und Iberia eingeführte Fässer standen. Fidelma blieb stehen und kräuselte angewidert die Nase. Außer dem Geruch nach Wein durchdrangen noch andere Dünste die unterirdischen Räume.
«Wir befinden uns unmittelbar unter der großen Küche der Abtei, Schwester», erklärte Athels-with entschuldigend. «Die Gerüche ziehen durch die Mauern bis hier hinunter.»
Fidelma antwortete nicht darauf, sondern bedeutete der domina weiterzugehen. Nach einer Weile kamen sie zu einer Reihe kleiner Kammern, die, wie ihnen Schwester Athelswith erklärte, der Aufbewahrung von Vorräten dienten, unter besonderen Umständen jedoch auch als Gefängniszellen zum Einsatz kamen. Pechfackeln erleuchteten die grauen, kalten Wände.
In ihrem spärlichen Licht hockten zwei Männer und würfelten.
Schwester Athelswith sprach sie in gebieterischem Tonfall auf sächsisch an.
Die beiden Männer erhoben sich murrend, und einer von ihnen nahm einen Schlüssel von einem Haken.
Schwester Athelswith, deren Aufgabe erfüllt war, wandte sich um und verschwand in der Düsternis.
Der Mann wollte Eadulf gerade den Schlüssel geben, als sein Blick auf Fidelma fiel. Er grinste anzüglich und sagte etwas, das sein Gefährte offenbar sehr lustig fand.
In scharfem Ton wies Eadulf sie zurecht. Die beiden Krieger zuckten mit den Schultern, und der eine warf den Schlüssel auf den Tisch. Fidelma verstand genug Sächsisch, um zu begreifen, daß Eadulf sich nach den Namen der Zeugen erkundigte, die gegen den Verdächtigen aussagen würden. Der erste Krieger grunzte und nannte ein paar Namen, darunter den Wulfrics von Frihop. Dann kehrten sie zu ihrem Würfelspiel zurück und beachteten die beiden nicht weiter.
«Was hat er gesagt?» flüsterte Fidelma.
«Ich habe nach den Namen der Zeugen gefragt.»
«Das habe ich verstanden. Aber was hat er davor gesagt?»
Sichtlich verlegen zuckte Eadulf mit den Schultern. «Es waren die Worte eines Unwissenden», antwortete er ausweichend.
Fidelma drang nicht weiter in ihn, sondern sah schweigend zu, wie er die schwere Eichentür aufschloß.
In der winzigen, übelriechenden Zelle gab es kein Licht.
Auf einem Bündel Stroh in einer Ecke saß ein Mann mit langem Haar und struppigem Bart. Man hatte ihn offenbar recht unsanft behandelt, denn sein Gesicht war von blauen Flecken übersät, und auf seinen zerlumpten Kleidern waren Blutflecken zu sehen.
Mit dunklen, stumpfen Augen blickte er zu Fidelma auf, und ein Geräusch, das an ein Kichern erinnerte, gurgelte in seiner Kehle.
«Willkommen in meinem prächtigen Heim!» Er versuchte, spöttisch und zuversichtlich zu klingen, doch seine krächzende Stimme zitterte.
«Bist du Canna?» fragte Fidelma.
«Canna, der Sohn Cannas aus Ard Macha», bestätigte der Bettler. «Will mir die Kirche ihren Segen mit auf den Weg geben?»
«Deshalb sind wir nicht hier», erwiderte Bruder Eadulf scharf.
Der Bettler betrachtete ihn eingehend.
«Wen haben wir denn da? Einen sächsischen Bruder, und dazu noch einen, der sich zu Rom bekennt. Falls Ihr mich dazu bringen wollt, ein Geständnis abzulegen, kommt Ihr vergebens. Ich habe Äbtissin Etain nicht umgebracht.»
Fidelma sah auf die jämmerliche Gestalt hinunter.
«Wißt Ihr, weshalb man Euch anklagt?»
Canna schaute auf. Seine Augen weiteten sich, als er in der jugendlichen Schwester eine Landsmännin erkannte.
«Weil ich meine Kunst ausgeübt habe.»
«Was für eine Kunst sollte das sein?»
«Ich bin Astrologe. Durch die Deutung der Gestirne ist es mir möglich, Ereignisse vorauszusehen.»
Eadulf seufzte ungläubig.
«Ihr gebt also zu, daß Ihr den Tod der Äbtissin vorausgesagt habt?»
Der Mann nickte selbstzufrieden.
«Und das war nicht einmal besonders schwer. In Irland ist unsere Kunst uralt, wie Euch die gute Schwester hier bestätigen wird.»
Fidelma nickte zustimmend.
«Ja, unsere Astrologen besitzen die besondere Gabe ...»
«Das ist mehr als eine Gabe», unterbrach sie der Bettler. «Die Astrologie muß studiert werden wie jede andere Wissenschaft oder Kunst. Und ich habe viele Jahre damit zugebracht.»
«Nun gut», lenkte Fidelma ein. «In Irland gibt es die Kunst der Astrologie seit Menschengedenken. Früher gehörte die Deutung der Sterne zu den Vorrechten der Druiden, heute durchdringt sie das gesamte Leben, und viele Häuptlinge und Könige beginnen nicht einmal mit dem Bau eines neuen Hauses, ohne ein Horoskop erstellen und die günstigste Zeit für ein solches Unterfangen ermitteln zu lassen.»
Eadulf schnaubte verächtlich. «Behauptet Ihr etwa, daß Ihr Etains Tod aus einem Horoskop herausgelesen habt?»
«Genau das.»
«Und Ihr habt ihren Namen und die Stunde ihres Todes genannt?»
«Ja.»
«Und es gibt Leute, die Eure Prophezeiungen hörten, noch ehe Äbtissin Etain gestorben ist?»
«Ja.»
Eadulf starrte Canna ungläubig an.
«Und dennoch schwört Ihr, sie nicht getötet oder irgendeinen Anteil an ihrem Tod gehabt zu haben?»
Canna schüttelte den Kopf.
«Ich bin unschuldig. Darauf schwöre ich tausend Eide.»
Eadulf wandte sich an Fidelma.
«Ich bin ein einfacher Mann, der nur das glaubt, was er sieht. Deshalb meine ich, daß Canna der Mörder sein oder in den Mordplan eingeweiht gewesen sein muß. Kein Mensch kann die Zukunft voraussagen.»
Mit ernster Miene schüttelte Schwester Fidelma den Kopf.
«In unserem Volk ist die Wissenschaft der Astrologie weit fortgeschritten. Selbst einfache Leute kennen die Himmelserscheinungen und stellen im täglichen Leben einfache astronomische Beobachtungen an. Viele können die jeweilige Stunde der Nacht an der Stellung der Gestirne ablesen.»
«Aber vorauszusagen, daß die Sonne sich ausgerechnet in dem Augenblick am Himmel verfinstert ...», begann Eadulf.