Cedd ließ den Blick über seine Zuhörer schweifen.
«Oder war er das etwa nicht?» fragte er bissig. «War er Nubier? Franke vielleicht? Oder gar Sachse? Nein! In welchem Land wurde Christus geboren, und wo wuchs er zum Manne heran, wenn nicht im Land der Juden?»
«Er war der Sohn Gottes!» rief Wilfrid aufgebracht.
«Und der Sohn Gottes wählte das Land Israel als seine Geburtsstätte, er wählte Juden zu seinen irdischen Eltern, und sein Wort brachte er zuallererst denen, die von Gott erwählt waren. Erst als sie ihren Messias töteten, wandten sich die Juden von seinem Wort ab und überließen es den Nichtjuden, es an ihrer Stelle aufzugreifen. Ist es vor diesem Hintergrund nicht völlig widersinnig, die Tatsache zu leugnen, daß Christus während eines jüdischen Festtages hingerichtet wurde? Wie kommen wir dazu, ein vollkommen willkürliches Datum zu setzen, an dem die christliche Welt seiner Hinrichtung gedenken soll, obwohl dieses Datum mit dem tatsächlichen Tag seiner Hinrichtung in keinerlei Zusammenhang steht?»
Äbtissin Abbe nickte zustimmend.
«Wie ich hörte, haben die Anhänger Roms es auch darauf angelegt, unseren Ruhetag zu verlegen, weil er auf den gleichen Tag fällt wie der hebräische Sabbat», rief sie empört.
Wilfrids Augen funkelten wütend.
«Sonntag, der erste Tag der Woche, ist mit Recht der christliche Ruhetag, denn er steht symbolisch für die Auferstehung.»
«Und doch ist der Sonnabend der traditionelle Tag der Ruhe, weil er der letzte Tag der Woche ist», warf ein anderer Bruder ein - Chad, der Abt von Lastingham, wie Fidelmas Nachbarin ihr bereitwillig zuflüsterte.
«Die vielen von Rom durchgesetzten Veränderungen führen uns immer weiter von unseren ursprünglichen Gedenktagen fort. Sie lassen unsere Feiertage willkürlich erscheinen und rauben ihnen jeglichen Sinn», rief Abbe laut. «Warum nicht zugeben, daß Rom im Irrtum ist?»
Wilfrid mußte warten, bis der heftige Beifall unter den Anhängern Columbans verebbt war.
Cedds Gelehrsamkeit brachte Wilfrid sichtlich in Verlegenheit. Wohl aus diesem Grund versuchte er, die Worte des altehrwürdigen Abts ins Lächerliche zu ziehen.
«Rom ist also im Irrtum?» schnaubte er. «Wenn Rom im Irrtum ist, ist auch Jerusalem im Irrtum, Alexandria und Antiochia ebenfalls, ja die ganze Welt ist im Irrtum, nur die Iren und Bretonen wissen, was richtig ist .»
Abt Chad war sofort auf den Beinen.
«Vielleicht wird es den edlen Wilfrid von Ripon erstaunen zu hören», begann er mit unüberhörbar spöttischem Unterton, «daß die Kirchen des Ostens die neue römische Datierung des Osterfests bereits zurückgewiesen haben. Sie folgen den gleichen Berechnungen wie wir. Und sie sind weit davon entfernt, den Namen Anatolius von Laodikeia zu verhöhnen. Weder die Kirche der Iren und Bre-tonen noch die Kirchen des Ostens haben sich von der ursprünglichen, in Arles beschlossenen Datierung abgewandt. Einzig und allein Rom versucht, die alte Tradition aus den Angeln zu heben.»
«Euer Fehler ist, daß Ihr Rom für den Mittelpunkt der Welt haltet», meldete sich Bischof Col-man zu Wort. «Ihr tut gerade so, als hätten wir uns mit dem Rest der Christenheit überworfen. Und doch haben sich die Kirchen Ägyptens und Syriens, ja die Kirchen des gesamten Ostens auf ihrem Konzil von Chalcedon geweigert, die römischen Vorschriften .»
Empörte Zwischenrufe aus den Rängen der Anhänger Roms übertönten den Rest seiner Rede. Der Aufruhr wurde so groß, daß man kein einziges Wort mehr verstand.
Schließlich stand König Oswiu auf und hob die Hand.
Nur allmählich kam der Saal zur Ruhe.
«Brüder und Schwestern, unsere Debatte am heutigen Vormittag war lang und anstrengend, und zweifellos haben wir viel Stoff zum Nachdenken ausgetauscht. Ich denke, wir sollten uns eine Pause gönnen, um neben der geistigen auch körperliche Nahrung zu uns zu nehmen. Den Nachmittag sollten wir in Meditation verbringen und uns erst heute abend wieder hier versammeln.»
Das allgemeine Stimmengewirr schwoll erneut an, als sich die Menge erhob, sich aber nur zögernd zu zerstreuen begann.
«Wo ist Athelnoth?» fragte Fidelma ihre Nachbarin.
Angestrengt ließ die Schwester ihren Blick über die Menge schweifen.
«Dort drüben, Schwester, auf der anderen Seite der Halle. Neben dem jungen Mann mit dem strohblonden Haar.»
Mit einem kurzen Seitenblick auf Eadulf wandte Schwester Fidelma sich in die angegebene Richtung und bahnte sich einen Weg durch die noch immer in zahlreichen Grüppchen debattierende Menge auf die Gestalt zu, die ihre Nachbarin ihr gezeigt hatte. Athelnoth stand dicht hinter dem streitlustigen Wilfrid von Ripon, und es sah ganz so aus, als wartete er auf eine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Daneben stand ein hellblonder Mönch, der für Wilfrid mehrere Bücher und Dokumente bereitzuhalten schien.
«Bruder Athelnoth?» sprach Fidelma ihn von hinten an.
Athelnoth schrak zusammen. Fidelma konnte sehen, wie sich die Muskeln in seinem Nacken anspannten. Dann wandte er sich langsam zu ihr um.
Obgleich er nicht sehr groß war, schien er seine Begleiter dennoch zu überragen. Er hatte ein breites Gesicht, eine hohe Stirn, eine feine Adlernase und dunkle Augen. Fidelma nahm an, daß viele Frauen ihn anziehend fanden. Auf sie wirkten seine düsteren Züge jedoch eher unheimlich.
«Ihr wollt mich sprechen, Schwester?» fragte er mit volltönender, angenehmer Stimme.
Eadulf, der ihr in dem Gedränge nur mit Mühe hatte folgen können, erschien keuchend neben ihr.
«Wir wollten Euch sprechen.»
«Der Zeitpunkt ist denkbar ungünstig.» Athel-noths Tonfall deutete kühle Überlegenheit an, und jetzt, da er Eadulf sah, richtete er seine Worte ausschließlich an den sächsischen Mönch. Fidelma störte die Angewohnheit der Sachsen, sie, sobald ein Mann zugegen war, einfach zu übersehen. «Ich warte darauf, mit Abt Wilfrid sprechen zu können.»
Bruder Eadulf ergriff das Wort, ehe Fidelma antworten konnte. Vielleicht hatte er das wütende Funkeln in ihren Augen gesehen.
«Es wird nicht lange dauern, Bruder. Es geht um den Tod von Äbtissin Etain.»
Athelnoth konnte seine Züge nicht ganz beherrschen. Ein merkwürdiger Ausdruck huschte über sein Gesicht und verschwand, ehe Schwester Fidelma ihn deuten konnte.
«Was hat ihr Tod mit Euch zu tun?» erwiderte Athelnoth ungehalten.
«König Oswiu hat uns mit der Untersuchung des Mordfalles betraut, und zwar mit ausdrücklicher Billigung von Bischof Colman und Äbtissin Hilda.»
Schwester Fidelmas ruhige, klare Worte reichten aus, um Athelnoths Einwände zu entkräften. Solcher Machtbefugnis konnte auch er nichts entgegensetzen.
«Und was wollt Ihr von mir?» Fidelma konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sich ein angriffslustiger Ton in seine Stimme schlich.
«Laßt uns hinausgehen. Hier versteht man sein eigenes Wort nicht», schlug Eadulf vor und deutete auf die Seitentür des sacrarium. Die versammelten Glaubensbrüder und -schwestern debattierten noch immer hitzig und schienen das Mittagsmahl vergessen zu haben, das im Refektorium auf sie wartete.
Athelnoth zögerte. Er sah Wilfrid an, der in ein ernstes Gespräch mit Agilbert, dem rundlichen Wighard und dem gebrechlichen Erzbischof von Canterbury vertieft war und niemanden sonst wahrzunehmen schien. Schließlich wandte er sich seufzend um und folgte Eadulf und Fidelma zur Tür. Sie gelangten in den hortus olitorius, den ausgedehnten Küchengarten, der jenseits des sacrarium lag.
Die warme Maisonne warf ihr helles Licht auf die bunten Beete. Der Duft unzähliger Pflanzen und Kräuter lag in der Luft.
«Laßt uns ein wenig zwischen den Beeten wandeln und nach der Enge in der Versammlungshalle Gottes frische Luft genießen», schlug Eadulf in fast salbungsvollem Ton vor.
Die anderen beiden nickten. Sie schritten einen der breiten Gartenwege entlang, wobei Fidelma und Eadulf Athelnoth in ihre Mitte nahmen.