«Kanntet Ihr Äbtissin Etain?» eröffnete Eadulf fast beiläufig das Gespräch.
Athelnoth warf ihm einen raschen Seitenblick zu.
«Das kommt darauf an, was Ihr unter <kennen> versteht», gab er zurück.
«Ich kann die Frage ja noch einmal anders stellen», entgegnete Eadulf geduldig. «Wie gut kanntet Ihr Etain von Kildare?»
Athelnoth errötete leicht. Er zögerte, dann antwortete er knapp: «Nicht besonders gut.»
«Aber Ihr kanntet sie?» fragte Fidelma, zufrieden mit der Art, wie der sächsische Mönch die Befragung eingeleitet hatte.
«Ich bin ihr vor vier Tagen das erste Mal begegnet.»
Als niemand darauf etwas erwiderte, sprach Athelnoth hastig weiter.
«Bischof Colman rief mich vor einer Woche zu sich und sagte mir, er habe gehört, Äbtissin Etain von Kildare sei auf dem Weg nach Witebia, um an der großen Synode teilzunehmen. Ihr Schiff sei im Hafen von Ravenglass im Königreich Rheged eingelaufen, und die Reise würde sie über die Berge nach Catraeth führen. Colman bat mich, gemeinsam mit einigen Brüdern nach Catraeth zu reiten, die Äbtissin dort in Empfang zu nehmen und sicher nach Witebia zu geleiten. Und genau das habe ich auch getan.»
«Es war Euer erstes Zusammentreffen mit der Äbtissin?» hakte Fidelma noch einmal nach.
Athelnoth runzelte die Stirn.
«Weshalb stellt Ihr all diese Fragen?» fragte er vorsichtig.
«Wir möchten uns ein klares Bild von Etains letzten Tagen verschaffen», erklärte Eadulf.
«Also gut, dann lautet die Antwort ja. Es war unser erstes Zusammentreffen.»
Fidelma und Eadulf wechselten argwöhnische
Blicke. Beide waren sich ziemlich sicher, daß Athel-noth log. Aber warum?
«Und auf Eurer Reise nach Streoneshalh gab es keine besonderen Vorkommnisse?» fragte Eadulf nach einer Weile.
«Nein.»
«Ihr seid nicht mit der Äbtissin oder ihren Anhängern in Streit geraten?»
Athelnoth biß sich auf die Lippe.
«Ich weiß nicht, wovon Ihr redet», erwiderte er grimmig.
«Ach, kommt schon, Athelnoth», sagte Fidelma gutmütig. «Ihr seid als glühender Verfechter der Lehren Roms bekannt, und Äbtissin Etain sollte die Debatte für die Kirche Columbans eröffnen. Gewiß habt Ihr Euch das eine oder andere Wortgefecht geliefert? Schließlich wart Ihr einige Tage mit ihr und ihrem Gefolge unterwegs.»
Athelnoth zuckte mit den Schultern.
«Ach so. Natürlich gab es das eine oder andere Gespräch.»
«Gespräch?»
Athelnoths Seufzer kündete von kaum verhohlener Verärgerung.
«Wir hatten einen Streit, das war alles. Ich habe ihr meine Meinung gesagt. Das ist ja wohl kein Verbrechen.»
«Natürlich nicht. Ist es durch Euren Streit auch zu tätlichen Übergriffen gekommen?»
Athelnoth errötete. «Ein junger Mönch im Gefolge der Äbtissin mußte zurückgehalten werden. Sein jugendliches Ungestüm machte sein unbotmäßiges Gebaren verzeihlich. Er besaß noch nicht die nötige Reife, um zu wissen, daß sich Meinungsunterschiede nicht mit Gewalt austragen lassen. Ein hitzköpfiger Knabe. Der Vorfall blieb ohne Folgen.»
«Und was geschah, nachdem Ihr hier angekommen seid?»
«Ich hatte meine Pflicht gegenüber meinem Bischof erfüllt. Die Äbtissin und ihr Gefolge hatten Streoneshalh wohlbehalten erreicht, und meine Aufgabe war erfüllt.»
«Wirklich?» fragte Fidelma scharf.
Athelnoth sah sie an, antwortete jedoch nicht.
«Habt Ihr sie nach Eurer Ankunft noch einmal gesehen?» fragte Eadulf.
Athelnoth schüttelte den Kopf.
«Hm.» Fidelma atmete tief. «Ihr habt Etain also nicht in ihrer Zelle aufgesucht und den Wunsch geäußert, mit ihr alleine zu sprechen?»
Fidelma konnte förmlich sehen, wie sich die Gedanken des Mannes überschlugen. Seine Augen weiteten sich, als er an die Zeugin seines Auftritts dachte.
«Ach ja ...»
«Also doch?»
«Ich habe sie einmal aufgesucht.»
«Wann und zu welchem Zweck?»
Athelnoth war vorsichtig geworden. Fidelma
verspürte sogar ein gewisses Mitleid mit ihm, während er verzweifelt auf eine passende Ausrede sann.
«Gleich nach dem prandium, am ersten Tag der Debatte, ihrem Todestag. Ich wollte etwas zurückgeben, das ihr gehörte. Etwas, das sie während der Reise von Catraeth nach Streoneshalh verloren hatte.»
«Wirklich?» Eadulf kratzte sich am Ohr. «Warum habt Ihr es nicht schon vorher zurückgegeben?»
«Ich ... hatte es gerade erst entdeckt.»
«Und Ihr habt <es> ihr zurückgeben - was auch immer es war?»
«Eine Brosche.» Athelnoths Stimme klang jetzt sicherer. «Und ich habe sie nicht zurückgegeben.»
«Warum?»
«Als ich die Äbtissin aufsuchte, war sie nicht allein.»
«Warum habt Ihr die Brosche nicht trotzdem dort gelassen?»
«Ich wollte mit ihr persönlich sprechen.» Athel-noth zögerte. «Deshalb beschloß ich, sie ihr später zurückzugeben.»
«Und das habt Ihr dann auch getan?»
«Wie bitte?»
«Ihr habt sie ihr später zurückgegeben?»
«Nein. Später war die Äbtissin tot.»
«Ihr besitzt ihre Brosche also noch immer?»
«Ja.»
Schwester Fidelma streckte stumm die Hand aus.
«Ich habe sie nicht bei mir.»
«Auch gut», meinte Fidelma lächelnd. «Dann werden wir Euch zu Eurem cubiculum begleiten. Ich nehme an, die Brosche ist dort?»
Athelnoth nickte zögernd.
«Wir folgen Euch», sagte Eadulf.
Gemeinsam wandten sie sich zum Gehen. Athelnoth schien sich äußerst unwohl in seiner Haut zu fühlen.
«Was ist an der Brosche denn so wichtig?» fragte er zögernd.
«Solange wir sie nicht gesehen haben, läßt sich das schwer feststellen», gab Fidelma mit ruhiger Stimme zurück. «Im Augenblick verfolgen wir alles, was mit der Äbtissin im Zusammenhang steht.»
Athelnoth schnaubte wütend. «Falls Ihr nach verdächtigen Personen sucht, kann ich Euch eine nennen. Als ich zur Äbtissin kam, um ihr die Brosche zu bringen, war diese seltsame Schwester bei ihr.»
Fidelma hob die Augenbrauen.
«Ihr meint Schwester Gwid?»
Athelnoth nickte. «Die mißgünstige Piktin, die so grobschlächtig aussieht und sich ständig über jede Kleinigkeit ereifert. Die Pikten sind die Erzfeinde unseres Volkes. Mein Vater hat im Krieg gegen sie sein Leben gelassen. Jedenfalls ist diese Gwid der Äbtissin nicht von der Seite gewichen.»
«Wen sollte das wundern?» gab Eadulf zurück. «Sie war ihre Sekretärin.»
Athelnoth verzog das Gesicht.
«Mir war es von Anfang an ein Rätsel, warum Äbtissin Etain sie zu ihrer Sekretärin berufen hatte. Aus Mitleid vielleicht? Das Mädchen folgte der Äbtissin wie ein Hund. Fast hatte man das Gefühl, sie hielt Etain für die Wiedergeburt einer Heiligen.»
«Aber Etain hat Gwid ausdrücklich eingeladen, nach Witebia zu kommen und ihr als Sekretärin zu dienen», sagte Fidelma. «Hätte sie so etwas aus Mitleid getan?»
Athelnoth zuckte mit den Schultern und führte sie stumm durch den schattigen Kreuzgang zu seinem cubiculum.
Es war eine kleine, zweckmäßig eingerichtete Zelle, die sich in nichts von den anderen cubicula in der Abtei unterschied. Doch daß Athelnoth eine eigene Kammer anstelle eines einfachen Bettes in einem dormitorium zugewiesen worden war, zeugte von seiner wichtigen Stellung in der Kirche Northumbriens - eine Tatsache, die Fidelma wortlos zur Kenntnis nahm.
Athelnoth stand zögernd auf der Schwelle und blickte auf die kargen Sandsteinwände.
«Die Brosche .?» erinnerte ihn Fidelma an den Grund ihres Kommens.
Mit einem Nicken ging Athelnoth zu dem Holzhaken, an dem seine Sachen hingen. Darunter befand sich auch die epera, eine Ledertasche, in der reisende Glaubensbrüder ihre Habseligkeiten aufbewahrten.