Er griff mit der Hand in die Tasche, runzelte die Stirn und durchsuchte ihren Inhalt noch einmal gründlich.
Mit verwirrter Miene wandte er sich zu Fidelma und Eadulf um.
«Sie ist nicht da. Ich kann sie nirgends finden.»
XI
FIDELMA SAH ATHELNOTH FRAGEND
an.
«Und Ihr habt die Brosche eigenhändig in Eure Tasche gesteckt?»
«Ja. Gestern nachmittag.»
«Wer könnte sie herausgenommen haben?»
«Keine Ahnung. Niemand wußte, daß sie sich in meinem Besitz befand.»
Eadulf wollte schon eine spitze Bemerkung machen, als Fidelma ihn zurückhielt.
«Nun gut, Athelnoth. Sucht noch einmal gründlich nach der Brosche, und wenn Ihr sie gefunden habt, laßt es uns sofort wissen.»
Nachdem sie Athelnoth in seiner Zelle zurückgelassen hatten, wandte sich Eadulf an Fidelma.
«Ihr glaubt ihm doch nicht, oder?»
Fidelma zuckte die Achseln.
«Meint Ihr, er hat die Wahrheit gesagt?»
«Beim lebendigen Gott, nein! Natürlich nicht!»
«Dann hat Gwid also recht. Als Athelnoth zu Etains cubiculum kam, ging es um mehr als die Rückgabe einer einfachen Brosche.»
«Ganz gewiß. Athelnoth lügt.»
«Aber beweist das, daß er Etain ermordet hat?»
«Nein», räumte Eadulf ein. «Doch es könnte auf das Mordmotiv hinweisen.»
«Richtig. Auch wenn irgend etwas daran nicht schlüssig ist. Ich war mir sicher, daß Athelnoth die
Geschichte mit der Brosche erfunden hat, bis er behauptete, das Schmuckstück sei noch immer in seinem cubiculum. Ihm mußte doch klar sein, daß das sofort auffliegen würde.»
«Er stand unter dem Druck, uns möglichst rasch eine glaubhafte Geschichte auftischen zu müssen. Deshalb hat er die erstbeste Ausrede gebraucht, ohne sich deren Schwachpunkte klarzumachen.»
«Das klingt überzeugend. Und doch können wir es uns leisten, Athelnoth für eine Weile sich selbst zu überlassen. Kennt Ihr jemanden unter den sächsischen Geistlichen, der Euch ein wenig mehr über Athelnoth erzählen könnte? Vielleicht sogar jemanden, der ihn begleitete, als er Etain an der Grenze nach Rheged abholte? Ich würde gern mehr über diesen Athelnoth erfahren.»
«Eine gute Idee. Ich werde mich beim Abendessen umhören», stimmte Eadulf zu. «Wollen wir in der Zwischenzeit Bruder Seaxwulf vernehmen?»
Fidelma nickte.
«Warum nicht? Seaxwulf und Agatho gehören zu denen, die Etain zuletzt lebend gesehen haben. Laßt uns in Schwester Athelswiths officium zurückkehren und die gute Schwester bitten, Seaxwulf für uns ausfindig zu machen.»
Auf dem Weg zum Gästehaus war plötzlich lautes Geschrei zu hören. Eadulf spitzte besorgt die Ohren.
«Gibt es etwa schon wieder Schwierigkeiten?»
«Das werden wir mit Sicherheit nicht herausfinden, wenn wir hier stehenbleiben», versetzte Fidelma und wandte sich der Quelle des Lärms zu. Sie trafen auf eine Gruppe Geistlicher, die sich an mehreren Fenstern des Klostergebäudes drängten. Ea-dulf bahnte ihnen beiden einen Weg zu einem der Fenster, so daß sie nach draußen schauen konnten. Im ersten Augenblick konnte Fidelma nicht feststellen, was sich dort tat. Eine wütende Menschenmenge hatte sich um ein auf dem Boden liegendes Bündel schmutziger Lumpen versammelt. Unter lautem Gebrüll bewarfen sie es mit Steinen, wobei sie seltsamerweise einen Sicherheitsabstand hielten. Erst als Fidelma bemerkte, daß sich das Bündel bewegte, wurde ihr mit Schrecken klar, daß es sich um einen Menschen handelte. Die Menge steinigte jemanden zu Tode.
«Was geht hier vor?» erkundigte sie sich entsetzt.
Eadulf wandte sich fragend an einen der anderen Brüder, der ihm mit ängstlicher Miene antwortete.
«Ein Opfer der Gelben Pest», übersetzte Ea-dulf, «der Seuche, die unser Land ins Unglück reißt und Männer, Frauen und Kinder ohne Ansehen von Alter, Geschlecht oder Stellung trifft. Offenbar hat sich jemand hergeschleppt, um im Kloster Hilfe zu suchen, ist aber dem Markt zu nahe gekommen, den die Kaufleute im Schutz der Klostermauer aufgebaut haben.»
Fidelma sah ihn entgeistert an.
«Ihr meint, die Leute steinigen einen kranken Menschen zu Tode? Und niemand setzt dieser Greueltat ein Ende?»
Eadulf sah beschämt zu Boden.
«Würdet Ihr es wagen, Euch dieser aufgehetzten Meute in den Weg zu stellen?» Er zeigte auf die von Wut und Angst verzerrten Gesichter. «Außerdem», sagte er, «ist es ohnehin vorbei.»
Fidelma preßte die Lippen zusammen. Die Reglosigkeit des Bündels bestätigte Eadulfs Worte.
«Wenn der Menge klar wird, daß der Kranke tot ist, wird sie sich zerstreuen, und jemand wird die Leiche fortschleifen, damit sie verbrannt werden kann. In letzter Zeit sind einfach zu viele von uns an der Seuche gestorben, als daß man mit diesen Leuten noch vernünftig reden könnte.»
Wie Fidelma wußte, handelte es sich bei der Gelben Pest um eine meist tödlich verlaufende Form der Gelbsucht, die seit Jahrzehnten in Europa wütete und inzwischen auch Britannien und Irland erreicht hatte. In Irland, wo sie buidhe cho-naill genannt wurde, war sie vor acht Jahren zum erstenmal aufgetreten - eingeleitet, wie die Gelehrten behaupteten, von einer totalen Sonnenfinsternis. Sie griff vor allem im Hochsommer um sich und hatte bereits die Hälfte der irischen Bevölkerung dahingerafft. Zwei Hochkönige, die Provinzkönige von Ulster und Munster sowie zahlreiche andere Persönlichkeiten von Rang zählten zu ihren Opfern, und auch kirchliche Würdenträger wie Fechin von Fobhar, Ronan, Aileran der Weise, Cronan, Manchan und Ultan von Clonard waren ihr erlegen. Ja, es waren so viele Eltern gestorben und hatten hungernde Kinder zurückgelassen, daß Ultan von Ardbraccan ein Waisenhaus eröffnet hatte, um den jüngsten Opfern der Seuche Obdach zu geben und sie zu nähren.
Fidelma kannte die Schrecken der Gelben Pest.
«Steht Euer sächsisches Volk denn so wenig über den Tieren?» schnaubte Fidelma. «Wie kann es zu seinen eigenen Mitgeschöpfen so unbarmherzig sein? Und schlimmer noch, wie können Brüder und Schwestern Christi dabeistehen und seelenruhig zuschauen, als ob es um eine Belustigung auf einem Jahrmarkt ginge?»
Die anderen Glaubensbrüder und -schwestern hatten mit einem gleichgültigen Achselzucken ihre Plätze an den Fenstern verlassen und waren zu ihren jeweiligen Aufgaben zurückgekehrt. Falls sie Fidelmas unmißverständlichen Tadel gehört hatten, ließen sie es sich nicht anmerken.
«Eure Sitten sind nicht unsere Sitten», entgegnete Eadulf geduldig. «Soviel habe ich inzwischen gelernt. Ich habe die Zufluchtsstätten für Kranke und Schwache in Irland gesehen. Vielleicht werden wir eines Tages von Euch lernen. Doch jetzt befindet Ihr Euch in einem Land, in dem sich die Menschen vor Tod und Krankheit fürchten. Und die Gelbe Pest gilt als allergrößtes Übel, das alle dahinrafft, die sich ihm entgegenstellen. Was den Menschen angst macht, wollen sie zerstören. Ich habe Söhne gesehen, die ihre eigenen Mütter mitten im Winter aus dem Haus geworfen haben, weil bei ihnen Anzeichen der Seuche aufgetreten sind.»
Fidelma wollte widersprechen, doch was war der Sinn? Eadulf hatte recht. Die Sitten Northum-briens waren anders als die ihres Heimatlandes.
«Laßt uns mit Seaxwulf sprechen», sagte sie und wandte sich vom Fenster ab.
Draußen war das Geschrei inzwischen verebbt. Die Leute hatten ihre Steine fallen gelassen und sich wieder den Vergnügungen des Marktes zugewandt. Das reglose Lumpenbündel lag unbeachtet im Schlamm.
Als Seaxwulf den Raum betrat, erkannte Fidelma in ihm sofort den jungen Mann mit dem strohblonden Haar, der im sacrarium neben Wilfrid gestanden hatte.