Es klopfte an der Tür, und eine Schwester reichte einen Tonbecher mit dampfender Flüssigkeit herein.
«Ah, der Kräutertrank», meinte Eadulf grinsend. «Er mag bitter schmecken, Schwester, aber er wird Euch helfen. Ich verbürge mich dafür.»
Fidelma nippte an dem Gebräu und verzog das Gesicht.
«Am besten, Ihr trinkt den Becher so rasch wie möglich aus», empfahl Eadulf.
Fidelma rümpfte zwar die Nase, befolgte jedoch seinen Rat, schloß die Augen und schluckte das warme Getränk hinunter.
«Das war ziemlich scheußlich», stellte sie fest und stellte den Becher weg. «Es scheint mir fast, als hättet Ihr Spaß daran, mich mit Euren übelschmeckenden Mixturen zu traktieren.»
«Gibt es in Eurem Land nicht das Sprichwort: <Je bitterer die Medizin, desto gründlicher die Heilung>?» fragte Eadulf. «Aber wo waren wir stehengeblieben ...?»
«Bei Seaxwulf. Ihr sagtet, seine Leiche sei verschwunden. Aber warum? Jemand hat ihn getötet und sich die größte Mühe gegeben, ihn fortzuschaffen.»
«Er wurde ermordet, damit er nicht mit Euch sprechen kann. Soviel ist klar.»
«Aber was hatte Seaxwulf mir zu sagen? Was war so wichtig, daß er unbedingt ein geheimes Treffen vereinbaren wollte? Und weshalb mußte er dafür mit dem Leben bezahlen?»
«Vielleicht wußte Seaxwulf, wer Etain auf dem Gewissen hat?» Fidelma knirschte wütend mit den Zähnen.
«Drei Morde, und wir sind der Lösung nicht ein Stückchen nähergekommen.»
Eadulf schüttelte den Kopf.
«Im Gegenteil. Wir sind ihr zu nahe, Schwester», sagte er mit Nachdruck.
Fidelma sah ihn erstaunt an.
«Was meint Ihr damit?»
«Wenn wir völlig im dunkeln tappen würden, hätte es nur einen Mord gegeben. Die beiden letzten Morde wurden nur begangen, um zu verhindern, daß wir erfuhren, was die Ermordeten wußten. Wer auch immer Etain getötet hat - wir sind ihm so dicht auf den Fersen, daß er zum Handeln gezwungen war, damit wir ihn nicht enttarnen.»
Fidelma überlegte eine Weile.
«Ihr habt recht. Ich kann wohl noch nicht klar denken. Ihr habt völlig recht, Eadulf.»
Eadulf lächelte zaghaft.
«Ich habe auch herausgefunden, daß Athel-noth, was die Brosche betraf, nicht ganz die Unwahrheit gesagt hat.»
«Wie das?»
Eadulf streckte die Hand aus und hielt ihr eine kleine Silberbrosche entgegen. Es war eine kostbare Goldschmiedearbeit mit runden Ornamenten und Verzierungen aus Emaille und Halbedelsteinen.
Fidelma nahm die Brosche und drehte sie versonnen hin und her.
«Man sieht sofort, daß sie aus Irland stammt», meinte sie. «Wo habt Ihr sie entdeckt?»
«Als Bruder Edgar, der Medikus, und ich Athelnoth entkleideten, um seinen Körper noch einmal gründlich zu untersuchen, fanden wir einen kleinen Beutel, den er auf der nackten Haut trug. Darin befand sich nichts weiter als diese Brosche und ein kleines Stück Pergament mit einer griechischen Inschrift.»
«Zeigt es mir.»
Eadulf reichte es ihr und lächelte verlegen.
«Mein Griechisch reicht leider nicht aus, um es zu lesen.»
Fidelmas Augen glänzten. «Es ist ein Liebesgedicht. <Liebe erschüttert mein Herz wie der Bergwind, der in den Eichen rauscht.>» Sie seufzte. «Immer wenn wir glauben, ein Rätsel gelöst zu haben, entstehen tausend neue Fragen.»
«Das begreife ich nicht. Die Erklärung ist doch ganz einfach. Dies muß die Brosche sein, die Etain verloren hat und die Athelnoth ihr zurückgeben wollte - die gleiche Brosche, die er nicht finden konnte, als er mit uns in seinem cubiculum war. Und das Liebesgedicht an Etain hat er geschrieben, um ihre Gunst zu gewinnen, genau wie Schwester Gwid es angedeutet hat.»
Fidelma sah ihn zweifelnd an.
«Wenn dies die Brosche ist, die Etain verloren hat und die Athelnoth ihr wiedergeben wollte, warum trug er sie dann gemeinsam mit einem Liebesgedicht in einem kleinen Beutel auf der Haut? Hatte er sie auch bei sich, als er so tat, als würde er in unserem Beisein danach suchen? Dann hat er zumindest in dieser Hinsicht gelogen. Aber wieso?»
Eadulf lächelte. «Weil er in Etain vernarrt war. Er hat das Liebesgedicht für sie geschrieben. Vielleicht wollte er die Brosche als Andenken bewahren. Es kommt nicht selten vor, daß Gefühle von einem geliebten Menschen auf einen Gegenstand übertragen werden, der diesem Menschen gehört.»
Fidelmas Augen leuchteten auf. «Ein Andenken! Wie konnte ich bloß so dumm sein. Ich glaube, Eadulf, Ihr habt uns der Wahrheit einen Schritt nähergebracht.»
Eadulf sah sie verständnislos an.
«Hat Seaxwulf im librarium nicht griechische Liebesgedichte gelesen?» fragte Fidelma. «Und hat er uns nicht gefragt, ob es in Irland Sitte sei, daß Liebende sich Geschenke machen?»
«Doch. Aber ich verstehe nicht, wie uns das weiterhelfen soll. Wollt Ihr damit sagen, daß Seax-wulf Athelnoth getötet hat?»
«Und sich dann in einem Weinfaß ertränkte? Denkt noch einmal nach, Eadulf!»
Fidelma stand entschlossen auf, geriet jedoch gleich wieder ins Taumeln. Eadulf griff nach ihrem Arm und hielt sie fest, bis sich der Schwindel gelegt hatte.
«Laßt uns noch einmal in die apotheca gehen und das Weinfaß untersuchen, aus dem unsere dritte Leiche verschwunden ist. Ich glaube, Seaxwulf hatte etwas in seinem Besitz, das wir unbedingt finden müssen.»
«Seid Ihr dazu auch kräftig genug?» erkundigte sich Eadulf besorgt.
«Natürlich», gab Fidelma zurück. Dann hielt sie inne, und ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. «Ja, es geht mir schon viel besser», sagte sie sanft. «Ihr hattet recht. Die Medizin war bitter, aber mein Kopfschmerz ist verschwunden. Ihr seid auf dem Gebiet sehr bewandert, Eadulf. Ich bin sicher, Ihr wärt ein ausgezeichneter Apotheker.»
XVI
DURCH EINEN KURZEN GANG, DER SIE
von der Küche zu einer Treppe ins Kellergewölbe brachte, führte Eadulf Fidelma auf dem schnellsten Weg in den Weinkeller von Streoneshalh. Hätte Fidelma diese Abkürzung schon vorher gekannt, hätte sie sich auf dem Weg durch die düsteren Katakomben viel Zeit erspart. Sie hielt den Atem an, als sie die Küche mit ihren abgestandenen Dünsten durchquerten. Der Geruch nach verkochtem Kohl verfolgte sie die Wendeltreppe hinunter bis in die apotheca.
Fidelma ging zu dem Weinfaß, in dem sie Seaxwulf gefunden hatte, suchte nach dem Schemel und stieg vorsichtig hinauf - fürsorglich bewacht von Eadulf, der eine Öllampe emporhielt. In ihrem Licht konnte sie wesentlich besser sehen als beim Schein der Kerze, mit der sie beim letztenmal in den Weinkeller gekommen war.
Im Faß war nichts weiter als dunkelroter Wein.
Fidelma beugte sich noch weiter über den Rand, konnte aber nichts Verdächtiges erkennen. Sie griff nach einer Stange, die in der Nähe stand und wahrscheinlich dazu benutzt wurde, die Flüssigkeit in den Fässern zu messen, denn sie war an mehreren Stellen eingekerbt. Vorsichtig stocherte sie damit im Faß herum, doch es schien nichts auf den Grund gesunken zu sein. Der Duft des Weins machte sie benommen.
Fidelma kletterte wieder vom Schemel und umrundete das Faß. Anschließend fuhr sie mit der Hand über das Eichenholz. An einer Seite war es ganz feucht. Sie schnupperte an ihren Fingerspitzen. Der Weingeruch war unverkennbar.
«Leuchtet einmal hier auf den Boden», wies sie Eadulf an.
Eadulf hielt die Lampe an die fragliche Stelle. Auch der Boden war feucht, und es waren deutliche Schleifspuren zu sehen.
«Jemand hat die Leiche auf dieser Seite aus dem Faß gezerrt und fortgeschleppt . in diese Richtung. Kommt weiter!»
Entschlossen folgte sie der Spur auf dem Boden.
Eadulf blieb ihr dicht auf den Fersen.
Von gelegentlichen feuchten Flecken unterbrochen, waren zwei nebeneinander verlaufende Spuren zu sehen, ganz so als hätte jemand die Leiche an den Armen hinter sich her gezerrt, so daß die Knöchel über den Boden schleiften.