Mit weit aufgerissenen Augen lag Seaxwulf auf dem Rücken. Fidelma erschrak. Seitdem sie ihn zuletzt gesehen hatte, war der Leichnam übel zugerichtet worden. Die Brandung und die schroffen Felsen hatten ihre Spuren hinterlassen; die Kleidung des Mönchs war zerfetzt und voller Seetang.
Bruder Eadulf unterhielt sich kurz mit einigen umstehenden Fischern.
«Einer von ihnen hat den Leichnam in den Wellen treiben sehen, als er mit seinem Boot vom Fischfang zurückkam, und ihn in den Hafen geschleppt.»
Fidelma nickte zufrieden.
«Der Fischer, den Ihr gestern abend befragt habt, sagte Euch, die Leiche würde in sechs bis zwölf Stunden auftauchen. Er hat recht behalten. Und daß Seaxwulf nicht im Meer, sondern im Weinfaß ertrunken ist, könnt Ihr an seinem Mund erkennen.»
Sie beugte sich herunter und drückte Seaxwulfs Kiefer auseinander.
Eadulf schnappte nach Luft. «Lippen und Gaumen sind rot verfärbt», sagte er. «Aber ich habe Euer Wort nie angezweifelt.»
Fidelma ging nicht weiter darauf ein, sondern legte die Haut an Seaxwulfs Hals und Schultern frei.
«Seht Euch das an. Was haltet Ihr davon?» fragte sie.
Eadulf beugte sich neugierig vor.
«Abschürfungen und deutlich sichtbare Blutergüsse. Jemand mit sehr kräftigen Fingern hat ihn an den Schultern niedergedrückt.»
«Ja, ins Rotweinfaß. Kurz darauf muß ich gekommen sein. Erst als ich vom Schemel fiel und bewußtlos am Boden lag - vielleicht auch während Ihr mich in mein cubiculum brachtet -, wurde er aus dem Weinfaß gezerrt, durch den Tunnel geschleift und ins Meer geworfen. Der arme Teufel!»
«Wenn wir nur wüßten, was er Euch mitzuteilen hatte», murmelte Eadulf.
«Ich glaube, ich weiß es», sagte Fidelma leise. «Schaut einmal nach, ob er einen Beutel am Körper trägt.»
Eadulf durchsuchte die zerfetzte und vor Meerwasser triefende Kleidung des Mönchs. Von der üblichen pera oder crumena, die viele Mönche bei sich hatten, war nichts zu sehen. Nach einer Weile stieß Eadulf jedoch auf ein sacculus, eine kleine, in Seaxwulfs Kleidung eingenähte Leinentasche. In früheren Zeiten trugen Geistliche beiderlei Geschlechts nur eine crumena, einen kleinen Schulterbeutel mit ihrem Geld und ihrer persönlichen Habe. Andere, wie Athelnoth, benutzten eine pera. Seit einiger Zeit jedoch hatte sich der Brauch durchgesetzt, einen sacculus aus Leinen in die Kleidung einzunähen, um das Eigentum besser schützen zu können - eine Mode, die ursprünglich aus Franken stammte.
«Was haltet Ihr davon, Fidelma?» fragte Eadulf erstaunt.
In Seaxwulfs sacculus steckten ein Stück zerrissenes Pergament und eine kleine, runde Brosche. Das Schmuckstück bestand aus Bronze und war mit roter Emaille und ungewöhnlichen Mustern verziert.
Fidelma sah die Brosche an und stieß dann einen Freudenschrei aus. «Genau danach habe ich gesucht.»
Eadulf zuckte die Achseln. «Ich verstehe nicht, wie uns dieses Schmuckstück weiterhelfen soll. Seaxwulf war Sachse. Und ich kann mit Sicherheit sagen, daß diese Brosche aus Sachsen stammt. Das ist ein uraltes, vorchristliches Muster, das Symbol der alten Göttin Frig ...»
Fidelma unterbrach ihn. «Ich glaube, unser Fund wird uns den entscheidenden Hinweis geben. Und damit meine ich das Pergament ebenso wie die Brosche.»
Verärgert betrachtete Eadulf die fremde Schrift.
«Schon wieder etwas Griechisches.»
Fidelma nickte zufrieden.
«<Die alle Glieder erschütternde Liebe ergreift mich wieder, o unentrinnbares, bittersüßes Wesen.>»
«Hat Athelnoth auch diese Zeilen geschrieben?» fragte Bruder Eadulf verächtlich. Dann schnippte er plötzlich mit den Fingern. «Ihr habt angedeutet, daß Etains Tod möglicherweise nichts mit der Verschwörung gegen Oswiu zu tun hat und daß Taran und Wulfric an ihrem Tod unschuldig sind ... Ich hab’s! Athelnoth hat Etain doch umgebracht. Anschließend hat er die Verschwörung gegen den König aufgedeckt und wurde von Wulfric oder Alhfrith getötet. Sein gewaltsamer Tod hängt nicht mit dem Mord an Etain zusammen.»
Nachsichtig lächelnd schüttelte Fidelma den Kopf. «Eine gute Erklärung, Eadulf, aber leider nicht richtig.»
«Wer sonst hätte ein Motiv gehabt?»
«Zum einen vergeßt Ihr Abbe .»
Eadulf schlug sich mit der Hand vor die Stirn.
«Abbe hatte ich tatsächlich vergessen.» Seine Miene hellte sich auf. «Aber sie hätte nicht die nötige Kraft besessen, auch nur eines der Opfer zu töten.»
«Ich sage nicht, daß sie hinter den Morden steckt. Aber die Person, die wir suchen, ist gerissen. Ihre Gedankengänge winden sich wie ein Pfad durch ein höchst kompliziertes Labyrinth. Ihnen zu folgen, ist nicht ungefährlich.»
Schweigend kniete Fidelma noch einige Minuten neben Seaxwulfs Leiche, dann stand sie auf.
«Weist die Männer an, Seaxwulfs Leichnam in die Abtei zu tragen», sagte sie zu Eadulf. «Bruder Edgar soll ihn untersuchen.»
Sie wandte sich um und stieg langsam den Pfad nach Streoneshalh hinauf, die Hände über der Brosche gefaltet, den Kopf gesenkt.
Eadulf gab rasch die nötigen Anweisungen und ging ihr nach. Er wartete geduldig. Inzwischen kannte er sie gut genug, um zu wissen, daß sie tief in Gedanken versunken war. Nach einer ganzen Weile drehte sie sich zu ihm um. Noch nie zuvor hatte er auf ihrem Gesicht ein so triumphierendes Lächeln gesehen.
«Ja, ich glaube, jetzt paßt alles zusammen. Aber zuerst muß ich noch ins librarium gehen und das Buch mit den griechischen Liebesgedichten finden, in dem Seaxwulf gelesen hat.»
Eadulf blickte sie verständnislos an.
«Ich kann Euch beim besten Willen nicht mehr folgen. Was hat das librarium mit der ganzen Sache zu tun? Worauf wollt Ihr hinaus?»
Schwester Fidelma lachte.
«Darauf, daß ich weiß, wer die Morde auf dem Gewissen hat.»
XIX
VOR ÄBTISSIN HILDAS KAMMER BLIEB
Schwester Fidelma stehen, sah Bruder Eadulf an und verzog das Gesicht.
«Seid Ihr aufgeregt, Fidelma?» flüsterte Eadulf besorgt.
«Wer wäre unter diesen Umständen wohl nicht aufgeregt?» erwiderte sie. «Unser Widersacher ist stark und gerissen. Und die Beweise, die ich in der Hand habe, sind lückenhaft. Wie ich Euch bereits sagte, gibt es nur einen Schwachpunkt, und es kommt alles darauf an, ob es mir gelingt, die Gegenseite aus der Reserve zu locken. Wenn es nicht klappt .» Sie zuckte die Achseln. «Es ist durchaus möglich, daß uns der Schuldige doch noch entwischt.»
«Ich bin da und werde Euch unterstützen.»
Es klang nicht prahlerisch. Es war eine schlichte, tröstliche Aussage.
Voller Zuneigung lächelte ihn Fidelma an und streckte die Hand nach ihm aus. Eadulf ergriff sie und kurz sahen sie einander tief in die Augen. Dann senkte Fidelma den Blick und klopfte an die Tür.
Wie Fidelma es gewünscht hatte, waren alle versammelt - Äbtissin Hilda, Bischof Colman, König Oswiu, Äbtissin Abbe, Schwester Athelswith, Priester Agatho, Schwester Gwid und Bruder Wighard, der Sekretär des verstorbenen Erzbischofs. Oswiu hockte mit düsterer Miene auf dem Stuhl vor dem
Feuer, der sonst Colman vorbehalten war. Der Bischof hatte hinter Hildas Tisch Platz genommen. Alle anderen standen im Zimmer verteilt.
Erwartungsvolle Blicke wandten sich Fidelma und Eadulf zu.
Fidelma neigte den Kopf vor dem König und sah dann Äbtissin Hilda an.
«Mit Eurer Erlaubnis, Mutter Oberin?»
«Ihr könnt sofort beginnen, Schwester. Wir sind gespannt darauf, was Ihr uns zu sagen habt, und ich bin sicher, wir werden alle erleichtert sein, wenn es vorüber ist.»