Er sah im librarium nach und stellte fest, daß sie den Versen Sapphos entnommen waren. Als wir ihn im librarium trafen, fragte er mich sogar nach dem Brauch irischer Liebender, untereinander Geschenke auszutauschen. Ich verstand nicht, worauf er hinauswollte, bis es dafür zu spät war. Seaxwulf muß Gwid verdächtigt haben. Als er hörte, daß Athelnoth ermordet worden war, sprach er mich im Refektorium an. Da er Angst hatte, die anderen Schwestern könnten ihn verstehen, vereinbarte er auf griechisch mit mir ein heimliches Treffen. Allerdings vergaß er dabei, daß Gwid in Hörweite saß und besser Griechisch konnte als wir alle zusammen. Es war ein tödlicher Fehler. Gwid mußte ihn zum Schweigen bringen. Sie folgte ihm ins Kellergewölbe, versetzte ihm einen Schlag auf den Hinterkopf, stieß ihn ins Weinfaß und drückte seinen Kopf so lange in die Flüssigkeit, bis er kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Dann kam ich, und sie hatte keine Zeit mehr, die Leiche zu durchsuchen. Als ich die Leiche im Weinfaß entdeckte, rutschte ich von dem Schemel, auf den ich gestiegen war, und verlor das Bewußtsein. Mein Schrei rief Eadulf und Schwester Athelswith herbei, die mich in mein cubiculum brachten. Das gab Gwid Zeit, Seaxwulfs Leichnam aus dem Faß zu zerren, durch den Tunnel zum defectorum an den Klippen zu schleifen und ins Meer zu werfen. Nicht ohne ihn vorher zu durchsuchen, versteht sich.»
«Und warum hat sie Brosche und Gedicht nicht an sich genommen?» fragte Äbtissin Hilda. «Schließlich hätte sie dafür genug Zeit gehabt.»
Fidelma lächelte.
«Seaxwulf folgte der neuesten Mode. Er hatte einen dieser neuartigen sacculi in seine tunica eingenäht und bewahrte darin seine kostbarsten Beutestücke auf. Die arme Gwid wußte nichts von der Existenz des sacculus. Aber sie machte sich darüber auch keine großen Sorgen, da sie glaubte, den Leichnam und damit auch alle Beweisstücke ein für allemal losgeworden zu sein, indem sie ihn über den Rand der Klippen ins Meer stieß. Sie konnte nicht ahnen, daß die Strömung ihn innerhalb der nächsten sechs bis zwölf Stunden in der Nähe des Hafens anspülen würde.»
«Ihr sagt, Schwester Gwid habe Seaxwulfs Leiche durch den Tunnel zum Meer geschleift. War sie wirklich so kräftig?» fragte Hilda. «Und woher wußte Gwid, die in Streoneshalh doch eine Fremde war, von dem defectorum? Dieser Ort ist unseren Brüdern vorbehalten, und nur männliche Gäste erfahren von seiner Existenz.»
«Schwester Athelswith hat mir gesagt, daß man den Schwestern, die in der Küche arbeiten, von dem defectorum erzählt, damit sie sich nicht versehentlich dorthin verirren und das männliche Schamgefühl verletzen. Nach Etains Tod arbeitete Schwester Gwid in der Küche.»
Schwester Athelswith errötete.
«Das stimmt», räumte sie ein. «Schwester Gwid bat mich, in der Küche arbeiten zu dürfen, um in der verbleibenden Zeit ihres Aufenthalts etwas Sinnvolles tun zu können. Ich hatte Mitleid mit ihr und erklärte mich einverstanden. Die oberste Köchin hat sie dann wahrscheinlich vor dem defectorum der Männer gewarnt.»
«Eine Weile lang haben wir uns von den Ränken Eures Sohnes Alhfrith ablenken lassen», sagte Eadulf, an König Oswiu gewandt. «Wir dachten, Taran oder Wulfric könnten in die Morde verwickelt sein.»
Schwester Fidelma breitete abschließend die Hände aus. «Nun kennt Ihr das Ergebnis unserer Ermittlungen.»
Eadulf lächelte finster.
«Eine Frau, deren Liebe verschmäht wird, ist wie ein gestauter Strom: tief, undurchsichtig, aufgewühlt und von mächtigen, untergründigen Strudeln beherrscht. So war es auch bei Gwid.»
Colman seufzte.
«Schon Publicius Syrus sagte: <Liebe oder Haß - ein Drittes kennen die Frauen nicht.>»
Äbtissin Abbe lachte höhnisch.
«Syrus war ein Narr wie die meisten Männer.»
Oswiu erhob sich.
«Jedenfalls bedurfte es einer Frau, um diese Greueltaten aufzudecken», sagte er. Dann runzelte er die Stirn. «Hätte Gwid allerdings nicht ein so unbeherrschtes Wesen, wäre Eure Beweislage recht dünn gewesen. Zwar fügt sich alles zu einem Bild zusammen, doch hättet Ihr Gwid auch überfuhren können, wenn sie ruhig geblieben wäre und alles abgestritten hätte?»
Fidelma lächelte. «Das werden wir wohl niemals erfahren, Oswiu von Northumbrien. Aber ich denke schon. Kennt Ihr Euch in der Kunst der Kalligraphie aus?»
Oswiu verneinte.
«Ich habe diese Kunst bei Sinlan von Kildare studiert», erklärte Fidelma. «Für ein geübtes Auge ist es nicht schwer, die persönlichen Besonderheiten einer Schrift zu erkennen - die Art, wie die Buchstaben geformt sind, die Verzierungen, die Neigung der Schrift. Sapphos Verszeilen waren eindeutig von Gwid abgeschrieben.»
«Dann sollten wir Euch dankbar sein, Fidelma von Kildare», sagte Colman ernst. «Wir schulden Euch viel.»
«Bruder Eadulf und ich haben den Fall gemeinsam gelöst», entgegnete Fidelma verlegen.
Sie lächelte Eadulf rasch zu.
Eadulf erwiderte diese Geste.
«Schwester Fidelma ist zu bescheiden. Ich habe nicht viel zur Lösung beigetragen.»
«Immerhin genug, um Eure Ergebnisse der Versammlung bekannt zu geben, ehe ich heute mittag meine Entscheidung verkünde», gab Oswiu zurück. «Genug, um meinen Worten die Schärfe zu nehmen und das Mißtrauen zu zerstreuen, das sich in den Köpfen unserer Brüder und Schwestern eingenistet hat.»
Er hielt inne und lachte bitter.
«Ich spüre, wie eine Last von meinen Schultern fällt, weil der Mord an Äbtissin Etain nicht für Iona oder Rom, sondern im Namen der Sinneslust, die zu den niedrigsten Beweggründen zählt, begangen wurde.»
XX
IM SACRARIUM WAR ES UNGEWÖHN-
lich still, als Oswiu sich von seinem Thron erhob und den Blick über die erwartungsvollen Gesichter schweifen ließ. Jetzt, da sie ihre Aufgabe gelöst hatten, fühlten sich Schwester Fidelma und Bruder Eadulf auf der Synode seltsam fehl am Platz. Anstatt sich zwischen die Vertreter ihrer jeweiligen Kirchen einzureihen, standen sie stumm nebeneinander an einer Seitentür und beobachteten die Ereignisse, als gehörten sie nicht länger dazu.
«Ich habe meine Entscheidung getroffen», verkündete Oswiu. «Ja, letztendlich bedurfte es gar keiner großen Entscheidung mehr. Nachdem alle Begründungen vorgebracht worden waren, kam es auf die eine, alles entscheidende Frage an: Welche Kirche besitzt die größere Autorität - die Kirche Roms oder die Kirche Columbans?»
Erwartungsvolles Gemurmel regte sich im Saal. Oswiu hob die Hand, um die Anwesenden zum Schweigen zu bringen.
«Colman berief sich auf Johannes, Wilfrid auf Petrus. Jesus selbst hat Petrus zum Hüter des Himmelstors ernannt, und ich möchte mich nicht gegen ihn stellen. Im Gegenteil, ich möchte seinen Befehlen in jeder Hinsicht gehorchen, damit er mich, wenn ich dereinst selbst am Himmelstor stehe
- zu dem er, wie in der Heiligen Schrift nachzulesen ist, die Schlüssel in Händen hält -, nicht fortschickt und sich weigert, mich einzulassen.»
Oswiu hielt inne und sah sich im Saal um, in dem eine unnatürliche Stille herrschte. «Daher soll die Kirche in meinem Königreich Northumbrien von nun an die Lehren Roms befolgen.» Die Stille wirkte geradezu unheimlich.
Endlich erhob sich Bischof Colman.
«Mein König, ich habe alles gegeben, um Euch in den zurückliegenden drei Jahren treu zu dienen, als Abt von Lindisfarne und als Euer Bischof. Mit schwerem Herzen muß ich nun diese beiden Ämter aufgeben und in mein Heimatland zurückkehren, denn nur dort kann ich jetzt dem auferstandenen Christus nach meinem Gewissen und den Lehren meiner Kirche dienen. All jene, die auch weiterhin den Lehren Columbans folgen wollen, sind herzlich eingeladen, mich zu begleiten.»