Doch Oblomow schwieg; er hörte ihm schon längst nicht mehr zu und dachte mit geschlossenen Augen an etwas anderes. Als Tarantjew fort war, herrschte im Zimmer zehn Minuten lang eine absolute Stille. Oblomow war durch den Brief des Dorfschulzen und den bevorstehenden Umzug verstimmt und außerdem durch Tarantjews Schwadronieren ermüdet. Endlich seufzte er auf.
»Warum schreiben Sie denn nicht?« fragte Alexejew leise.
»Ich würde Ihnen die Feder beschneiden.«
»Beschneiden Sie sie und gehen Sie dann in Gottes Namen irgendwohin!« sagte Oblomow. »Ich werde damit selbst fertigwerden, und Sie werden es am Nachmittag abschreiben.«
»Aber gewiß«, antwortete Alexejew. »Ich könnte Sie sonst noch wirklich irgendwie stören ... Ich werde unterdessen die Botschaft bringen, man möchte auf uns nicht warten, um nach Jekaterinhof zu fahren. Adieu, Ilja Iljitsch.«
Doch Ilja Iljitsch hörte nichts; er hatte die Beine hinaufgezogen, lag jetzt beinahe im Sessel und versank mit trauriger Miene halb in Schlummer und halb in seine Gedanken.
Fünftes Kapitel
Oblomow, Edelmann von Geburt, Kollegiensekretär von Rang, lebte seit zwölf Jahren beständig in Petersburg.
Einst, als seine Eltern noch am Leben waren, hatte er weniger Räume, nahm nur zwei Zimmer ein und begnügte sich mit dem einen Diener Sachar, den er sich von dem Gut mitgebracht hatte. Doch nach dem Tode des Vaters und der Mutter war er der einzige Besitzer von dreihundertfünfzig Seelen, die er in einem der entlegensten Gouvernements, beinahe in Asien, geerbt hatte. Er bekam jetzt statt fünf- sieben-bis zehntausend Rubel Jahresrente, und sein Leben spielte sich von nun an in einem anderen, größeren Rahmen ab. Er mietete sich eine größere Wohnung, fügte zu seinem Dienstbotenetat einen Koch hinzu und hielt sogar eine Zeitlang ein paar Pferde. Damals war er noch jung, und wenn man auch nicht behaupten kann, daß er lebhaft war, war er doch wenigstens lebhafter als jetzt; er war noch von verschiedenen Bestrebungen erfüllt, hoffte immer auf etwas, erwartete viel vom Schicksal und von sich selbst, bereitete sich immer zu einer Laufbahn, zu irgendeiner Tätigkeit vor - vor allem natürlich innerhalb seiner Amtsstellung, die ja auch das Ziel seiner Reise nach Petersburg war. Dann hatte er vor, auch in der Gesellschaft eine gewisse Rolle zu spielen. Endlich, in der entfernten Perspektive des Überganges der Jugend in ein gesetztes Alter, schwebte seiner Phantasie ein verlockendes, glückliches Familienleben vor. Aber ein Tag folgte dem anderen, die Jahre flogen hin, der Flaum um sein Kinn wurde zu einem struppigen Bart, die strahlenden Augen verwandelten sich in zwei trübe Punkte, die Gestalt rundete sich, das Haar begann unbarmherzig auszugehen, er vollendete sein dreißigstes Jahr, und er war auf keinem einzigen Gebiete auch nur um einen Schritt nach vorwärts gerückt und stand dort noch immer an der Schwelle seiner Laufbahn, dort, wo er sich vor zehn Jahren befunden hatte.
Das Leben zerfiel in seinen Augen in zwei Hälften: Die eine setzte sich aus Arbeit und Langeweile zusammen, die zweite aus Ruhe und friedlicher Fröhlichkeit. Infolgedessen machte ihn seine wichtigste Laufbahn - das Amt - in der ersten Zeit auf eine sehr unangenehme Weise stutzig.
Er war in dem Innern der Provinz inmitten der sanften und gefühlvollen Sitten und Gebräuche der Heimat aufgewachsen, kam im Laufe von zwanzig Jahren nicht aus den Umarmungen der Verwandten, Freunde und Bekannten heraus und war so von Familiensinn durchdrungen, daß er sich auch sein künftiges Amt in der Art irgendeiner Familienbeschäftigung vorstellte, etwa in der Form des trägen Notierens der Einkünfte und Ausgaben, wie sein Vater es tat. Er glaubte, daß die Beamten irgendeines Ortes einen intimen, innigen Familienkreis bildeten, der sich unermüdlich um die Ruhe und das Vergnügen seiner Mitglieder sorgte, daß der Dienst im Amt durchaus obligatorische Gewohnheit wäre, an die man sich täglich zu halten hätte, und daß nasses Wetter, Hitze oder einfach eine Verstimmtheit immer eine genügende und gesetzliche Ursache wären, um nicht ins Amt zu gehen. Aber wie sehr kränkte es ihn zu sehen, daß mindestens ein Erdbeben sich einstellen müßte, damit ein gesunder Beamter nicht ins Amt zu gehen brauchte; in Petersburg kommen aber leider keine Erdbeben vor, eine Überschwemmung könnte zwar auch als Hindernis dienen, doch auch die tritt selten ein.
Oblomow wurde noch nachdenklicher, als vor seinen Augen Pakete mit der Aufschrift »eilig« und »sehr eilig« vorbeiflimmerten, als man ihm allerlei Erkundigungen und Exzerpte auftrug und zweifingerdicke Hefte vollzuschreiben befahl, die man wie zum Hohn Notizen nannte.
Außerdem mußte alles sehr schnell gehen, alle hatten es so eilig und gönnten sich gar keine Ruhe; sowie sie mit einer Sache fertig waren, stürzten sie mit einem wahren Ingrimm über eine andere her, als ob gerade diese die Hauptsache wäre; wenn sie aber damit fertig waren, verfiel auch sie der Vergessenheit, und es wurde eine dritte Angelegenheit vorgenommen, und so ging es bis in die Unendlichkeit fort! Ein paarmal weckte man ihn in der Nacht und ließ ihn »Notizen« schreiben, oder man holte ihn, wenn er auf Besuch war, durch einen Boten ab - und das wieder der Notizen wegen. Das alles erweckte in ihm große Angst und Langeweile. »Wann soll man denn leben? Wann leben?« flüsterte er bange.
Als er noch zu Hause war, hatte er gehört, der Chef sei der Vater seiner Beamten, und machte sich eine sehr rosige Vorstellung von demselben, indem er ihn fast als einen Verwandten ansah. Er dachte sich, er sei ein zweiter Vater, der nur für das eine lebt, wie er seine Beamten mit und ohne Ursache ununterbrochen belohnen könnte, und der sich nicht nur um ihre Bedürfnisse, sondern auch um ihre Vergnügungen sorgt. Ilja Iljitsch dachte, der Chef müßte sich in die Lage seines Beamten so hineinversetzen, daß er ihn besorgt fragen würde, wie er in der Nacht geschlafen habe, warum seine Augen trüb seien und ob er Kopfschmerzen habe. Doch er war gleich am ersten Tag seines Dienstes bitter enttäuscht. Mit der Ankunft des Chefs begann ein Hin- und Herrennen, ein Trubel, alle wurden verwirrt, stießen einander um, manche zupften sich ihre Kleider zurecht, in der Befürchtung, nicht anständig genug auszusehen, um sich dem Chef zu zeigen.
Oblomow bemerkte späterhin, daß das alles darauf zurückzuführen war, daß es Chefs gab, welche in dem bis zur Blödsinnigkeit erschrockenen Gesicht des Beamten, der ihnen entgegenrannte, nicht nur Achtung sich gegenüber, sondern auch Diensteifer und manchmal sogar Begabung sahen. Ilja Iljitsch brauchte sich vor seinem Chef nicht zu fürchten, da dieser ein gutmütiger Mensch mit angenehmen Manieren war; er hatte noch nie jemand Böses getan, die Beamten waren vollkommen zufrieden und wünschten sich nichts Besseres. Niemand hatte ihn jemals etwas Unangenehmes sagen, schreien oder lärmen gehört; er verlangte nie etwas, er bat immer. Er bat, eine Angelegenheit zu erledigen, er bat, man möchte ihn besuchen, er bat auch, man möchte sich verhaften lassen. Er duzte nie jemand, er sagte zu allen Sie, jedem einzelnen Beamten und allen zusammen. Doch alle seine Untergebenen wurden in seiner Anwesenheit befangen; sie beantworteten seinen freundlichen Blick nicht mit ihrer eigenen, sondern mit einer fremden Stimme, mit welcher sie sonst niemals sprachen. Auch Ilja Iljitsch wurde plötzlich befangen, ohne zu wissen, weshalb, wenn der Chef ins Zimmer trat, und auch er verlor seine eigene Stimme und bekam eine andere, dünne und häßliche, sobald der Chef ihn anredete.
Ilja Iljitsch stand auch trotz des gutmütigen, nachsichtigen Chefs sehr viel Angst und Langeweile im Dienste aus. Gott weiß, was aus ihm geworden wäre, wenn er einen strengen und anspruchsvollen Vorgesetzten über sich gehabt hätte! Oblomow blieb mit Mühe und Not zwei Jahre lang im Amt; vielleicht würde er auch noch ein drittes ertragen haben, um zu einem höheren Rang zu kommen; aber ein besonderer Fall nötigte ihn, den Dienst früher zu verlassen. Er schickte eines Tages ein wichtiges Papier statt nach Astrachanj nach Archangelsk. Die Sache kam ans Licht; man begann nach dem Schuldigen zu suchen. Alle erwarteten neugierig, der Chef würde Oblomow kommen lassen und ihn ruhig und kühl fragen, ob er das Dokument nach Archangelsk fortgeschickt habe, und alle waren darauf gespannt, mit welcher Stimme Ilja Iljitsch ihm antworten würde. Einige meinten, er würde gar nicht antworten, die Stimme würde ihm versagen. Beim Anblick der anderen wurde Ilja Iljitsch selbst von Angst erfaßt, obwohl er zugleich mit allen anderen wußte, der Chef würde sich auf einen Verweis beschränken: doch sein eigenes Gewissen war viel strenger als die zu erwartende Rüge. Oblomow wartete die verdiente Strafe nicht ab, sondern ging nach Hause und schickte ein ärztliches Attest.