»Ernst Pawelka, nehme ich an?«, fragte Sydow den rußgeschwärzten Koloss, allem Anschein nach total von der Rolle.
Der Angesprochene nickte.
»Tom Sydow, Kripo Berlin. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, hätte ich noch ein paar Fragen.«
Mit einer Geste, die sowohl Verlegenheit als auch Zögern ausdrückte, fuhr Pawelka mit dem Daumen über das unrasierte Kinn. Auf eine Antwort wartete der Kommissar indes vergebens.
»Sehr schön.« Sydow, nicht einer der Geduldigsten, ließ sich davon jedoch nicht anstecken, setzte sein Strahlemannlächeln auf und sagte: »Meinem Kollegen von der Spurensicherung zufolge handelt es sich bei Ihnen um denjenigen, der … der den Leichnam gefunden hat.« Sydow ließ ein paar Sekunden verstreichen, bevor er hinzufügte: »Richtig?«
»Gefunden ist vielleicht nicht das richtige Wort«, rang sich Pawelka endlich zu einer Antwort durch. »Überrollt vielleicht schon eher.«
»Hm.« Um Pawelka, der offenbar einen Heidenrespekt vor ihm hatte, nicht unnötig unter Druck zu setzen, legte Sydow eine erneute Kunstpause ein. Woraufhin er ergänzte: »Scheißgefühl, stimmt’s?«
Der Koloss dankte es ihm mit einem gequälten Lächeln. »Kann man wohl sagen«, flüsterte er, die Augen auf die Stelle gerichtet, wo die junge Frau unter die Lok geraten war. »Und dann noch aus heiterem Himmel.«
Froh, einen Aufhänger gefunden zu haben, tat es Sydow seinem Gesprächspartner gleich. Im Lärm einer Lautsprecherdurchsage, die sich auf den Vorortzug gegenüber bezog, ging seine Frage unter, weshalb er gezwungen war, sie kurze Zeit später zu wiederholen. »Aus heiterem Himmel?«, entgegnete er, was nicht wie eine Frage, sondern wie die Wiederholung von Pawelkas Äußerung klang.
»So ziemlich.«
»So ziemlich?«, echote Sydow, dem diese Verhörmethode nicht übermäßig behagte. An des Pudels Kern würde er früher oder später rühren müssen, ungeachtet seines Mitgefühls. »Wie darf ich das verstehen?«
Das personifizierte Elend namens Pawelka dachte angestrengt nach, kaum imstande, den Blick von der knapp 100 Meter entfernten Stelle abzuwenden. »Weil sie nicht runtergesprungen ist!«, brach es plötzlich aus ihm hervor.
Sydow, der ahnte, worauf das Gespräch hinauslaufen würde, gab sich dennoch betont gelassen. Schon wieder eine Frage, die keine ist, dachte er verstimmt. »Das bedeutet, sie wurde hinuntergestoßen.«
Der Koloss nickte. »Von einem Kerl mit Schmiss und Bürstenschnitt. Langer Lulatsch, so um die 30.«
»Bei lebendigem Leibe?«
»Lebendiger ging’s gar nicht«, taute Pawelka langsam auf. »Ich war vielleicht noch 50 Meter entfernt, da ging da droben auf der Invalidenstraße das Gerangel los.«
»Das heißt, Täter und Opfer haben sich in die Haare gekriegt?«
»Harmlos gesagt, Herr Kommissar. Aufeinander losgegangen sind die, da war alles zu spät. Wie Max Schmeling und Joe Louis.«
»Irgendetwas, das Ihnen besonders …?«, hakte Sydow nach, während der Rest seiner Frage vom Pfiff der Lokomotive auf dem Bahnsteig gegenüber übertönt wurde. Die Abfahrt des Zuges in Richtung Moabit stand offenbar kurz bevor.
Doch Pawelka verstand ihn auch so. »Schon möglich«, fuhr er nach kurzer Bedenkzeit fort. »Kurz bevor die Keilerei so richtig losging, hat die Frau diesem Kerl irgendwas in die Hand gedrückt.«
»Und was?«
Pawelka wog bedächtig das Haupt, nahm seine Schirmmütze ab und starrte das Futter an, als könne er darauf die Antwort ablesen. »Sah mir nach einem Brief aus. Oder einem Formular. Oder einem Stoß Blätter.« Der Koloss kratzte sich nachdenklich hinterm Ohr. »Bürokram jedenfalls.«
»Sonst noch was von Bedeutung?«
»Na ja, wie man’s nimmt.« Zum ersten Mal während der Vernehmung sah Pawelka den Kommissar richtig an, begleitet von einem weiteren Pfiff der Lokomotive.
Sydow zog die Brauen hoch, sagte jedoch nichts.
»Es dreht sich um die Frau, Herr Kommissar«, tastete sich Pawelka langsam vorwärts, während seine Pranken die Schirmmütze krampfartig umschlossen. »An der ist mir nämlich vor allem eins aufgefallen.«
»Und das wäre?«
»Dass es eine Nutte war.«
»Eine was?«
»Eine von den Barmherzigen Schwestern, Herr Kommissar«, trumpfte Pawelka merklich auf. »An denen herrscht ja wohl derzeit kein Mangel.«
In Gedanken bei der Kleidung der Toten, war Sydow plötzlich nachdenklich geworden. »Und woher wollen Sie das wissen?«
»Zum einen, weil man hier mit der Zeit einen Blick für so was bekommt. Und außerdem kenne ich sie.« Pawelka sah Sydow fragend an. »Hätten Sie vielleicht mal einen Glimmstängel …«
»Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Also: Woher ist Ihnen die Dame bekannt?«
»Aus der Bahnhofskneipe.«
»Schon mal mit ihr zu tun gehabt?«
»Ich? Wo denken Sie hin, Herr Kommissar!«, entrüstete sich der Koloss. »Da bräuchte ich mich nicht mehr nach Hause zu trauen.«
Sydow, der sich ernsthaft fragte, welchen Hausdrachen Pawelka sich angelacht hatte, trat bis auf Armlänge an ihn heran. »Und ihr Name?«
»Lili Marleen.«
»Hören Sie zu, Pawelka, wenn Sie mich auf den Arm …«
»Ihr Spitzname, Herr Kommissar«, warf der Koloss beschwichtigend ein, übertönt vom Geräusch des anfahren-den Zuges auf Gleis eins. »Für unsereins mit Sicherheit eine Nummer zu groß. Ami-Nutte. Ohne eine Stange Camel lief da gar nichts. Was Besseres sozusagen.«
»Und wo hat sie ge…« Weiter kam Sydow nicht, und hätte er nicht jenes Quäntchen Instinkt besessen, dem er bereits eine Menge zu verdanken gehabt hatte, wäre das Leben von Ernst Pawelka aus Kreuzberg keinen Pfifferling mehr wert gewesen. Dass der blonde Hüne am Abteilfenster mit seiner Luger Parabellum umgehen konnte, merkte man ihm an. Die Andeutung eines Lächelns im Gesicht, zielte er auf Pawelkas Hinterkopf, seiner Sache offenbar sicher. Doch er hatte nicht mit einem gewissen Tom Sydow gerechnet. Der nämlich schrie laut: »Runter!«, stürzte sich auf den Koloss und riss den Zweieinhalb-Zentner-Mann zu Boden. Der Schuss ging ins Leere, der zweite auch, und ehe der Kahlkopf sein Ziel wieder fixieren konnte, hatte der Zug den Bahnsteig bereits passiert.
Sichtlich unter Schock, rappelte sich Pawelka auf. »Und … und wer war das, Herr Kommissar?«, stammelte er.
Die Waffe im Anschlag, ließ Sydow sie wieder im Halfter verschwinden, trat an die Bahnsteigkante und sah dem Zug hinterher. »Jemand, dem Sie so schnell nicht wieder über den Weg laufen sollten«, sprach er in gedämpftem Ton. »Und der offenbar eine Menge zu verlieren hat.«
12
Berlin-Wannsee, britischer Sektor | 10.05 h
»Die paar Turbulenzen?«, tat Flight Lieutenant Mickey Fitzgerald von der Royal Air Force die Frage der unbekannten Passagierin mit einer lässigen Handbewegung ab. »Das ist wirklich noch gar nichts, Miss. Da hätten Sie erst mal beim D-Day dabei sein sollen. Mein Gott, da haben wir uns beinahe die Gedärme aus dem Leib gekotzt, was, Joe? Der Herr Kopilot hier neben mir hat mit seinem Sandwich die Scheibe garniert, und als Beilage gab’s Roastbeef à la Navigator. Meine Fresse, was haben wir uns einen abgereihert. Da war wirklich alles zu spät.«
»Wie appetitlich«, erwiderte die knapp 28-jährige Frau im hautengen Kostüm, mit dem sie Rita Hayworth ernsthaft hätte Konkurrenz machen können. »Und wie lange wird das Geschaukel Ihrer Meinung nach noch dauern?«
Die Antwort von Mickey Fitzgerald, Pilot eines viermotorigen Flugbootes vom Typ Sunderland, ließ nicht lange auf sich warten. »Approaching Berlin … Roger«, gab er nach Hamburg-Finkenwerder durch, von wo aus die Propellermaschine vor gut einer Stunde gestartet war. Und fügte mit Blick auf die Passagierin in der Uniform eines Flying Officers hinzu: »Bis wir auf dem Wannsee gelandet sind, kann es möglicherweise noch ein bisschen ungemütlich werden. Aber wer wie Sie bei der Truppe ist, den kann ja wohl nichts mehr erschüttern. Eine Luftbrücke, um den Berlinern aus der Scheiße zu helfen – hätten wir uns vor dreieinhalb Jahren nicht träumen lassen, was, Joe?«