Als er die Augen aufschlug, dachte Sydow, es sei alles vorbei. Von dem, was passiert war, hatte er keine Ahnung, und er kam auch nicht dazu, darüber nachzugrübeln. Der Steinbrocken auf seinem Brustkorb schnürte ihm den Atem ab, die stickige, von Schwelbränden und dem Gestank von ausströmendem Gas durchtränkte Luft tat ein Übriges. Das muss die Hölle sein!, durchfuhr es ihn, und als ihm dämmerte, worin die Ursache für all das hier lag, wollte Thomas Randolph von Sydow schreien. Doch der Schrei, der Name, der ihm auf der Zunge lag, kam ihm nicht über die Lippen. Zu schwer wog der Stein, zu schwer die Erkenntnis, die ihn in diesem Moment beschlich. Sydow rang verzweifelt nach Luft. Nein!, durchzuckte es ihn jäh. Dies hier ist nicht die Hölle. Dies hier ist der Krieg, schlimmer als sämtliche Höllenvisionen dieser Welt zusammen.
*
Bis sich der Bergungstrupp zu ihm vorgekämpft hatte, waren volle drei Stunden vergangen. Am Anfang war da nur dieses Klopfgeräusch gewesen, das Heulen von Sirenen, vereinzeltes, wie aus weiter Ferne an sein Ohr dringendes Rufen. Mit jeder Minute, die er inmitten der Trümmer ausharrte, kam es jedoch näher. Nicht lange, und er war imstande, einzelne Stimmen zu unterscheiden, was die Erkenntnis, Opfer eines Raketenangriffes geworden zu sein, immer wahrscheinlicher machte.
Von der Befürchtung, die seine Überlebensinstinkte beinahe zunichte gemacht hätte, nicht zu reden.
Doch dann, im Angesicht des Todes, dessen Hand er bereits an der Kehle spürte, war es vorüber. Licht. Gleißend helles, die Dunkelheit durchbrechendes Licht. Und ein Arm, der sich vom Himmel auf ihn herabsenkte.
Doch die Freude über die Rettung, die ihm zuteilgeworden war, blieb aus. Und nicht nur das. Kaum hatten ihn die Feuerwehrleute geborgen, fiel sein Blick auf eine Hand, die unweit von ihm aus dem Schutthaufen ragte. Schlank, feingliedrig und cremefarben. Eine Hand mit einem Verlobungsring: Rebeccas Hand.
Jetzt erst, als ihn der Schmerz wie eine Stahlklinge durchbohrte, brachte es Tom Sydow fertig, zu schreien.
So laut, dass jedes Geräusch ringsum erstarb.
4
Berlin-Mitte, Neue Reichskanzlei | 20.04.1945, 19.30 h
Der Tag, an dem Heinrich Himmler seinen Führer zum letzten Mal sah, war der vierte Tag mit schönem Wetter in Folge. Und zugleich dessen Geburtstag. Für den Reichsführer-SS die Krönung eines rabenschwarzen Tages. Am Vormittag hatte es einen der schwersten Bombenangriffe des gesamten Krieges gegeben, und jetzt, wo es ans Eingemachte ging, kam die Nachricht, die Rote Armee habe die Vororte bereits erreicht. Deutlicher hätte sich der herannahende Untergang nicht ankündigen können.
Doch Heinrich Himmler, 44 Jahre, nur 1,71 Meter groß und kurzsichtig, hatte vorgesorgt. Er hatte einen Trumpf im Ärmel. Einen, von dem er glaubte, dass er stechen würde. Dass er stechen musste. So mir nichts, dir nichts abtreten, kam für den Herrn über die KZs, der Millionen Menschen auf dem Gewissen hatte, nicht infrage. Dazu war sein Überlebenswille viel zu groß. Und seine Skrupellosigkeit, von der er einmal mehr Gebrauch zu machen gedachte.
Er würde retten, was zu retten war, sich den Alliierten als Mittelsmann andienen. Am Vorabend, an dem er mit Champagner auf den Führer angestoßen hatte, war der erste Schritt dazu getan worden. Und weitere würden zweifelsohne folgen. Immerhin, so sein Kalkül, waren Zehntausende von Juden immer noch in seiner Hand. Ein Pfund, mit dem sich wuchern ließ. Und das sich bestens dazu eignete, als generös und kompromissbereit dazustehen. Das heißt, falls die Alliierten mitspielen würden. Aber daran hegte Heinrich Himmler keinen Zweifel.
»Zeit, sich auf die Socken zu machen, was, Reichsführer?« Im Begriff, in seine gepanzerte Limousine Marke Mercedes Benz W 150 mit dem Nummerschild ›SS-1‹ zu steigen, blieb Himmler unverrichteter Dinge stehen. Nicht etwa, weil er übermäßig viel Zeit gehabt hätte, sondern weil er den Spott, der in der Stimme hinter ihm mitschwang, nicht so einfach auf sich sitzen lassen wollte. »Wer weiß, vielleicht schnappt die Falle ja schon in ein paar Stunden zu.«
»Zu Ihrer Information, Bormann –«, fuhr Himmler den stiernackigen, ihm in puncto Skrupellosigkeit zumindest ebenbürtigen Privatsekretär Hitlers an, »dies hier ist keine Flucht, sondern der Versuch, die Sache des Führers bis zum letzten Atemzug …«
»Und wozu dann die Eile?«, warf Bormann höhnisch ein, gänzlich unbeeindruckt von dem Höllenlärm, den der sowjetische Granathagel, die Kanonen der T-44-Panzer und die Stalinorgeln verursachten. »Sie wissen doch: Beim Endkampf um Berlin ist der Führer auf jeden Mann angewiesen.«
Himmler nahm seine Brille ab, rieb sie am Ärmel seines Ledermantels und setzte sie wieder auf. Dieser Bormann mit seiner vulgären Visage war ihm schon immer suspekt gewesen. Am heutigen Tage mehr denn je. »Mag sein«, gab er gelassen zurück, während sein Adjutant zum wiederholten Male auf die Uhr schaute. »Aber jeder ist doch am besten dort aufgehoben, wo er für die Sache des Führers am nützlichsten ist.«
»Oder die eigene«, kommentierte Bormann süffisant, ohne Himmler auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Und fügte hinzu: »Je nachdem.«
»Was soll das heißen?«, giftete Himmler und warf dem mit Hakenkreuzbinde und Parteiuniform bekleideten Reichsleiter wütende Blicke zu. »Schon mal davon gehört, dass mich der Führer den getreuen Heinrich genannt hat?«
»Umso wichtiger, Ihre Treue zum Führer einmal mehr unter Beweis zu stellen.«
»Und wie?«
»Indem Sie mir das da aushändigen«, ließ die Antwort von Hitlers Privatsekretär nicht lange auf sich warten, während er den Blick wie zufällig auf Himmlers Aktentasche richtete. »Damit nur ja nichts in falsche Hände gerät.«
Himmlers Griff um die Tasche verstärkte sich, und die Zornesader an seinem Hals schwoll an. Doch bevor er seinem Ärger Luft machen konnte, kam ihm Hitlers braune Eminenz zuvor. »Befehl des Führers!«, schnarrte er, ohne sich an der erbosten Miene des Reichsführers im Geringsten zu stören. »Keinerlei Akten von Brisanz mehr hinaus aus der Reichskanzlei. Ab sofort.«
Wäre unweit der Reichskanzlei nicht gerade eine Katjuscha-Rakete detoniert, hätte Himmler seinem Kontrahenten vermutlich einen Fausthieb verpasst. »Haben Sie den Verstand verloren, Mann!«, brüllte er über das Krachen, Heulen und die dumpfen Detonationen hinweg, die mit jeder Minute näherkamen, in der er sich mit dem größten Speichellecker weit und breit herumschlagen musste. »Und überhaupt: Was glauben Sie eigentlich, wen Sie hier vor sich haben?«
Martin Bormann, ebenfalls 44, Reichsleiter und Sekretär des Führers, gab sich keine Mühe, mit seiner Antipathie hinterm Berg zu halten. »Einen, der den Führer in der Stunde der höchsten Not seinem Schicksal überlässt. Um es dezent auszudrücken.«
»Vorsicht, Bormann. Sie spielen mit dem Feuer.«
»Wenn das hier einer tut, dann Sie. Was glauben Sie, würde der Führer dazu sagen, wenn er erfährt, dass Sie sich gestern Abend mit einem Vertreter des Jüdischen Weltkongresses getroffen haben? Um quasi in allerletzter Minute noch ein bisschen auf lieb Kind zu machen. Mal ehrlich, Himmler: Glauben Sie wirklich, mit so was könnten Sie Ihren Kopf noch aus der Schlinge ziehen?«
Heinrich Himmler, Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei, Befehlshaber des Ersatzheeres und Innenminister des Deutschen Reiches, blieb die Luft weg. Derartiges war ihm schon lange nicht mehr untergekommen.
Und eine solche Unverfrorenheit auch nicht.