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Wo hatte dieser Zuchtbulle bloß seine Informationen her?

»Ins Schwarze getroffen, stimmt’s?«, spöttelte Bormann, während Himmlers Adjutant den Motor demonstrativ aufheulen ließ. »Wusste ich’s doch, dass wir uns verstehen.«

»Und wenn nicht?«

»Dann, lieber Himmler, bleibt mir nichts anderes übrig, als den Führer von Ihren – gelinde gesagt – Eskapaden in Kenntnis zu setzen.«

»Dafür werde ich Sie zur Verantwortung ziehen, Bormann.«

»Lieber nicht!«, erwiderte der Reichsleiter barsch und wippte auf den Absätzen hin und her. »Und jetzt die Aktentasche, und zwar schnell.«

Himmler riss den Mund auf, um Bormann nach allen Regeln der Kunst zusammenzustauchen. Doch daraus wurde nichts. Die Einschläge und Detonationen wurden immer heftiger und hallten wie ein vielfältiges Echo im Ehrenhof wider. Just in dem Moment, als Himmler seinem Jähzorn Luft machen wollte, schlug in unmittelbarer Nähe eine Granate ein. Der Reichsadler über dem Eingang löste sich aus seiner Verankerung und zerbarst mit lautem Krachen auf den Stufen.

»Die Aktentasche, Reichsführer«, wiederholte der Reichsleiter mit tonloser Stimme, während sich Himmler von den Trümmerteilen, dem gespenstisch erleuchteten Hof und dem mit Einschusslöchern übersäten Portal nicht losreißen konnte. »Oder wollen Sie es tatsächlich darauf ankommen lassen?« Nein, das wollte der mit Abstand meistgefürchtete Scherge des NS-Regimes nicht. Er wollte nur eines: Überleben. Raus hier. Solange noch eine Chance bestand.

Und so konnte sich Martin Bormann, Hitlers braune Eminenz, jeden weiteren Kommentar sparen. Gerade einmal eine Viertelminute sollte vergehen, bis Himmler ihm seine Beute überlassen und sich auf den Rücksitz geworfen hatte, um anschließend mit quietschenden Reifen Richtung Wilhelmplatz zu verschwinden.

Martin Bormann hingegen nahm sich Zeit. Wieder zurück im Bunker, zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück, warf die Aktentasche auf den Tisch und schloss hinter sich ab. Pech gehabt!, schoss es ihm durch den Kopf, als er den Inhalt der Mappe genauer unter die Lupe nahm. Depeschen, Notizen und jede Menge Krimskrams. Schon komisch, was dieser Brillen-Heini so alles mit sich rumschleppte. Von konspirativem Material keine Spur. Bormann fluchte. Mit einer derartigen Ausbeute brauchte er bei Hitler gar nicht erst aufzukreuzen.

Doch dann, als er den Inhalt von Himmlers Tasche sorgsam durchforstet hatte, fiel Bormanns Blick auf die Seitentasche, aus der die Ecke einer schwarzen Ledermappe herausragte. Bormanns Miene hellte sich auf, und sein Jähzorn verflog im Nu.

Im fahlen Licht der Lampe, die der Detonationen wegen immer heftiger hin und her schaukelte, muteten die SS-Runen auf dem Einband wie ein Menetekel an, und Bormann musste sich überwinden, die Mappe aufzuklappen. Doch er wäre nicht der gewesen, für den man ihn hielt, hätte er dieser Versuchung widerstehen können.

Er sollte es nicht bereuen.

Die Akte mit der Aufschrift ›Gruppe W 45‹, das erste einer Reihe streng geheimer Dokumente, war ein wahrer Schatz, und während Bormann sie in seinem Schreibtisch verschwinden ließ, brach ein Lachen aus seinem Mund hervor.

Es sollte ihm jedoch vergehen.

Schneller, als er es sich hatte vorstellen können.

5

Führerbunker unter der Reichskanzlei | 30.04.1945, 15.45 h

Um den Leichnam seines Führers verschwinden zu lassen, benötigte Bormann drei Dinge: genug Benzin, eine Fackel und einen möglichst tiefen Bombentrichter.

Und jede Menge Zielwasser.

Dass er nicht mehr ganz nüchtern war, bekamen die drei Männer, die neben ihm in Deckung gegangen waren, jedoch nicht mit. Jeder von ihnen, auch Bormann, wollte nur die eigene Haut retten, nur allzu verständlich angesichts des Granathagels, der sich über den Ministergärten entlud. Die Russen waren höchstens noch 300 Meter entfernt. Der Grund, weshalb das Quartett langsam nervös wurde.

Da lag er nun, der Führer und Kanzler des Großdeutschen Reiches, direkt neben Eva Braun, Gattin für eineinhalb Tage. Eingehüllt in eine Decke und von den Leichen, die überall herumlagen, kaum zu unterscheiden. Nicht viel mehr als drei Meter vom Eingang entfernt, in den sich seine vier Paladine geflüchtet hatten.

Zwei Generäle, Propagandaminister Joseph Goebbels und er, Martin Bormann, Reichsleiter und Sekretär des Führers. Der Mann mit dem Allerweltsgesicht. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil, dachte er doch nicht im Traum daran, das Schicksal der übrigen Bunkergenossen zu teilen.

Warten, bis ihn die Russen an die Wand stellen würden? Nicht mit ihm.

Was bedeutete, dass er diese Sache hier schleunigst zu Ende bringen musste.

Keine drei Meter von der Leiche entfernt, zückte Bormann sein Feuerzeug und hielt es gegen das zerknüllte Papier, aus dem er eine Art Fackel fabriziert hatte. Doch nichts geschah. Das Provisorium wollte und wollte kein Feuer fangen. Da half kein Fluchen, keine Zurechtweisung von Goebbels und schon gar nicht die Erkenntnis, wie gefährlich es hier oben war. Dieses Scheißding wollte einfach nicht brennen. Hitlers braune Eminenz geriet ins Schwitzen. Der Gestank nach Phosphor und Benzin, von dem mehr als 200 Liter für den Leichnam seines Chefs draufgegangen waren, raubte ihm fast den Atem. Ganz zu schweigen von dem Verwesungsgeruch, der über dem in eine Mondlandschaft verwandelten Garten der Reichskanzlei hing. Wo man auch hinsah, nichts als Trümmer, verkohlte Baumstümpfe und von Granaten zerfetzte Leichen. Eine Szenerie, gegenüber der die Wüste Gobi wohl wie ein Ziergarten aussah. Nicht zu vergessen war der Lärm, den die sowjetischen Raketen, Artilleriegranaten und Mörser fabrizierten.

Schrecklich.

Und dann, nach einem weiteren Granateneinschlag, wagte Bormann einen letzten Versuch, den Leichnam Hitlers in Brand zu stecken. Und hatte Glück. Die Fackel brannte. Endlich. Jetzt hieß es nur, ruhig Blut zu bewahren, richtig zu zielen und nach getaner Arbeit möglichst rasch abzuhauen. Wohin, würde sich noch zeigen.

Kaum hatte Hitlers Privatsekretär das brennende Konstrukt in hohem Bogen ins Freie geschleudert, schoss aus dem Bombentrichter, in dem der Führer des Großdeutschen Reiches lag, eine grelle Feuersäule empor. »In Deckung!«, schrie Bormann, doch die anderen drei hörten nicht auf ihn. Wie gebannt von dem grausigen Spektakel, rührten sich Goebbels, die Generäle Burgdorf und Krebs nicht von der Stelle. Bis der Propagandaminister und die beiden Militärs Haltung annahmen, den rechten Arm emporreckten und sich schleunigst in Sicherheit brachten.

Nicht so Bormann, Hitlers Schatten. Das Feuerzeug immer noch in der Hand, fingerte er eine Zigarettenschachtel aus seiner Brusttasche und begann in aller Seelenruhe zu rauchen. »Soviel zum Thema Verteidigungsabschnitt Zitadelle«, murmelte er in einem Anfall von Galgenhumor, den er sich angesichts eines neuerlichen Granathagels jedoch rasch verkniff. Dann warf er seine Kippe in den Trichter, drehte sich um und verschloss die Tür.

Kanonenfutter für die Russen? Nicht mit mir, schwor sich Bormann und stieg die 40 Stufen in den acht Meter unter der Erde gelegenen Bunker hinab.

Bevor er sich aus dem Staub machen würde, gab es noch etwas zu erledigen.

Etwas, das keinen Aufschub duldete.

*

Sie hatte es satt. Gründlich satt. Die Durchhalteparolen, die stickige, von Dieselgestank getränkte Luft und das Gequatsche von den Wunderwaffen, die es nicht gab. Sollten ihr doch alle hier unten den Buckel runterrutschen. Und der Führer, der sich heute Nachmittag die Kugel gegeben hatte, mit dazu.

Die dralle, mit hautengem Tüll, Nylons und Stöckelschuhen bekleidete Blondine rümpfte die Nase und stieß einen obszönen Fluch aus. Hier unten vor die Hunde zu gehen, während sich die Parteibonzen reihenweise dünn machten, das sah die 24-jährige Stenotypistin nicht ein. Dafür war ihr Überlebenswille, gepaart mit gesundem Erwerbssinn, einfach zu groß. Wenn die anderen nichts Besseres zu tun hatten, als dem Iwan in die Arme zu laufen, war das deren Problem. Sie jedoch, Lilian Matuschek, hatte nicht die geringste Lust dazu. Abhauen lautete die Devise, und zwar möglichst schnell.