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»Aber das ist doch Wahnsinn, Kamerad.«

Dabei sich abzuwenden, fuhr der Anführer herum, presste die Hände gegen die Hüften und schlenderte auf den ausgezehrten Mittdreißiger in der Uniform eines SS-Panzergrenadiers zu. »Wie meinen?«, stieß er hervor und tat so, als habe er sich verhört. Sein Tonfall verriet jedoch das genaue Gegenteil. »Was hast du gerade eben gesagt, Grenadier?«

»Dass das, was Sie vorhaben, Wahnsinn ist, Kamerad.«

»So, ist es das.« Trotz der Maske, die der Anführer trug, war ihm sein Jähzorn deutlich anzumerken. Wie seine Begleiter aus Erfahrung wussten, würde eine Eruption nicht mehr lange auf sich warten lassen. »Hast du vielleicht eine bessere Idee, Grenadier?«

Der Angesprochene wandte den Kopf ab und schwieg.

»Aber ich.« Von dem Kopfnicken, das der Maskierte in Richtung des Zweimetermannes machte, bekam kaum einer der Umstehenden etwas mit. Von dem, was im Folgenden geschah, umso mehr. Dennoch rührten sie sich keinen Zentimeter von der Stelle.

Ohne erkennbare Emotionen löste sich der Hüne mit der Tätowierung aus dem Halbdunkel, trat hinter den

SS-Grenadier und presste ihm eine 9 mm Luger Parabellum ins Genick. Bevor dieser wusste, wie ihm geschah, hatte der Zweimetermann bereits abgedrückt. Die Augen weit aufgerissen, sackte sein Opfer zu Boden.

»Noch irgendwelche Fragen?«, wiederholte der Maskierte, als der SS-Grenadier sein Leben ausgehaucht hatte.

Keine Antwort.

»Dann können wir ja zur Tagesordnung übergehen«, fügte er nach einer Kunstpause hinzu, mit dem Zweck, seine Abgebrühtheit zu demonstrieren. »Frage: Uhrzeit?«

»Genau vier«, antwortete der Tätowierte, ein boshaftes Grinsen auf den bläulich schimmernden, von tiefliegenden Lidern überwölbten Augen. »Noch exakt 20 Stunden bis OP-Beginn.«

»Sehr schön. Noch Fragen?«

»Nein, Brigadeführer!«, hallte es dem Maskierten aus dem Kreis seiner Getreuen entgegen. Auf den Getöteten, aus dessen Schädel immer noch Blut sickerte, verschwendete niemand einen Blick.

»Dann also wie gehabt: Beginn von Kommandounternehmen Nummer eins um 10 Uhr, Nummer zwei um 14 Uhr und Nummer drei bei Einbruch der Dunkelheit. Für den Fall, dass sich die Amerikaner mit den Sowjets danach noch nicht im Kriegszustand befinden, erfolgt der Hauptschlag. Voraussichtlicher Beginn: 24 Uhr. Heil Hitler, Kameraden.«

»Heil Hitler, Brigadeführer!«

»Wegtreten.«

Während sich seine Gefolgsleute in Windeseile zerstreuten, wies der Maskierte den Zweimetermann an, den Leichnam zu beseitigen und wandte sich dem korpulenteren seiner beiden Begleiter zu. »Was ist eigentlich mit der dreckigen kleinen Salonnutte, die versucht hat, dich zu erpressen?«, fragte er, woraufhin sich dieser verlegen räusperte. »Ich hoffe, du hast getan, worum ich dich ersucht habe?«

Bevor sich die Nummer zwei der ›Gruppe W 45‹ eine Antwort zurechtgelegt hatte, war ihm der Tätowierte bereits zuvorgekommen. »Melde gehorsamst: Habe in gut einer Stunde ein kleines Tête-à-tête mit ihr arrangiert«, schnarrte er.

»Sehr schön!«, wiederholte der Anführer. »Noch Fragen?«

9

Berlin-Karlshorst, Sowjetische Militäradministration

| 06.05 h

Ein Plauderstündchen beim Marschall. In aller Herrgottsfrühe. Das hatte sich Juri Andrejewitsch Kuragin, Major des MGB, schon immer gewünscht.

»Raus mit der Sprache, Kuragin – was führt Sie zu mir?«, gab sich Wassili Danilowitsch Sokolowski,

51-jähriger Sowjetmarschall und Oberkommandierender in Deutschland, betont jovial und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz.

Kuragin, knapp 20 Jahre jünger, sportlich, mit dunklem Teint und Oberlippenbart, tat sich mit einer Antwort schwer. »Schwer zu sagen, Wassili Danilowitsch«, druckste er herum. »Aber ich dachte mir, Sie sollten über das, was hier so vor sich geht, auf alle Fälle Bescheid …«

»Setzen Sie sich, mein Junge.« Sokolowski sortierte ein paar Akten, verschränkte die Hände und ließ sich in seinen gepolsterten Lehnsessel sinken. »Tee?«, fügte er mit Blick auf den Samowar hinzu, einzige Zierde in dem ansonsten schmucklosen Büro.

»Vielen Dank, Wassili Danilowitsch, aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich lieber erst mein Anliegen vorbringen«, antwortete der MGB-Offizier mit Blick auf das Stalin-Porträt, unter dem sein Vorgesetzter thronte. »Um Ihre kostbare Zeit nicht über Gebühr zu strapazieren.«

»Dann schießen Sie mal los, Kuragin«, forderte ihn Sokolowski auf, dessen goldene, mit einem fünfzackigen Stern verzierten Schulterklappen ihre Wirkung gewöhnlich nicht verfehlten. »Was führt Sie zu mir?«

»Eine Angelegenheit von großer Wichtigkeit.«

»Und die wäre?«

»Uniformen, Wassili Danilowitsch. Circa ein Dutzend Uniformen aus den Beständen der Sowjetarmee.«

»Uniformen?«, flachste Sokolowski und kratzte sich mit dem Zeigefinger an der Nasenwurzel. »Wusste gar nicht, dass sich das MGB für die neueste Mode interessiert.«

»Bei allem schuldigen Respekt, Wassili Danilowitsch: Mir ist leider nicht zum Scherzen zumute.«

»Sondern?«

Kuragin rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Genosse Oberkommandierender: Laut Informationen des dafür zuständigen Unteroffiziers in Wünsdorf ist aus der dortigen Kleiderkammer rund ein Dutzend Uniformen entwendet worden. Wann genau, konnte er mir nicht sagen. Und auch nicht, von wem.«

Sokolowski seufzte gequält. »Und deswegen wollten Sie mich sprechen, Kuragin? Wegen einem Dutzend geklauter Uniformen? Kommen Sie schon, Major. Sie wissen doch selbst, wie es unseren Jungs da draußen geht. Um an Wodka, Machorka oder eine Stange Camel zu kommen, würden die doch das Allerheiligste ihrer Freundin verhökern. Kein Wunder, dass der Schwarzhandel blüht. Unter uns, Kuragin – ich kann’s ihnen nicht verdenken.«

»Ich auch nicht. Bei den paar lausigen Kopeken Sold.«

Sokolowski gab ein ungehaltenes Räuspern von sich. »Wo liegt dann das Problem?«

»Das Problem, Wassili Danilowitsch«, fügte Kuragin mit ernster Miene hinzu, »besteht darin, dass außer der Kleiderkammer anscheinend auch noch das Waffendepot dezimiert worden ist.«

Sokolowski schnellte nach vorn. »Dezimiert?«, stieß er entgeistert hervor.

»Ganz recht«, erwiderte Kuragin, runzelte die Stirn und fuhr durch das dichte schwarze Haar, dem er den Spitznamen der Kaukasier zu verdanken hatte. »Unter anderem auch …«

»Ein Dutzend Kalaschnikows?« Die Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, war Sokolowski plötzlich ganz Ohr.

»Inklusive der etwa gleichen Anzahl an Tokarews, Modell SWT-40. Und jede Menge Pistolen vom Typ TT-33. Plus eine Kiste Sprengstoff. Bajonette und Handgranaten nicht zu vergessen.« Kuragin gab ein verlegenes Räuspern von sich. »Und dann noch eine nagelneue 2M-3.«

»Wie bitte – eine 2M-3?«

»Sie haben richtig gehört, Genosse Oberkommandierender.«

»Ganz schöner Flurschaden«, brummte Sokolowski vergrätzt. »Und wie erklären Sie sich das?«

Kuragin entfernte eine Staubfaser von seiner Uniform und zuckte die Achseln. »Schwer zu sagen, Wassili Danilowitsch«, antwortete er. »Wie Sie bereits sagten: Es gibt Subjekte in unserer Armee, die würden für eine Stange Camel alles tun. Wenn es sein muss, sogar ihre Freundin auf den …«

»Ärgerlich ist die Sache allemal«, fiel Sokolowski dem MGB-Major rasch ins Wort. »Um nicht zu sagen suspekt. Fragt sich nur, wie derlei Saboteuren beziehungsweise kriminellen und antisowjetischen Elementen das Handwerk gelegt werden kann.«

Im Begriff, eine Antwort zu geben, wurde Kuragins Absicht durch das Läuten des Telefons durchkreuzt.

»Sokolowski – was gibt’s?« Im Büro an der Zwieseler Straße 4, Teil eines ehemaligen Offizierskasinos der Wehrmacht, kehrte schlagartig Ruhe ein. An der Miene, die der Sowjetmarschall machte, war zu erkennen, dass es sich um etwas Wichtiges handelte. Etwas, womit er nicht im Traum gerechnet hatte. Je mehr sich Sokolowskis Miene verfinsterte, umso tiefer wurden Kuragins Sorgenfalten, und der Geruch nach Bohnerwachs, Kautabak und Tee, der dem Büro anhaftete, begann dem MGB-Offizier auf den Magen zu schlagen.