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»Nachrichtensperre, absolute Geheimhaltung und erhöhte Alarmbereitschaft – was denn sonst?«, bellte Sokolowski schließlich ins Telefon. »Das gibt’s doch nicht, dass vier Angehörige der Sowjetarmee einfach so verschwinden. Desertiert? Womöglich. Und wenn, werden wir es herauskriegen. Beziehungsweise das MGB. Wehe, die Amerikaner stecken dahinter, dann ist aber was los. Luftbrücke – wenn ich das Wort nur höre! Spätestens, wenn der Winter kommt, können die doch einpacken. Bilden sich ein, sie könnten uns Paroli bieten. Da haben die sich aber getäuscht. Und zwar gewaltig.« Sokolowski schäumte vor Wut. »Was? Na klar – Ausgehverbot für sämtliche Einheiten in und um Berlin. Weitere Befehle? Keine Sorge, Hauptmann, das werde ich Sie rechtzeitig wissen lassen. Ja, ja, schon gut. In Ordnung. Daswidanja.«5

»Schlechte Nachrichten?«

Sokolowski ließ einen Fluch vom Stapel, der mit zum Derbsten gehörte, was Kuragin in den vergangenen Jahren zu Ohren gekommen war, schüttelte den Kopf und starrte sekundenlang ins Leere. »Das werden Sie nicht glauben, Kuragin«, brach der Sowjetmarschall schließlich das Schweigen, krebsrot im Gesicht. »Ich frage mich, wie so etwas überhaupt möglich ist.«

»Was denn, Genosse Oberkommandierender?«

Sokolowski verkniff sich einen neuerlichen Fluch, griff nach dem Telefonhörer und erwiderte: »Sieht so aus, als bekämen Sie allerhand zu tun, mein Junge.« Und fügte beim Wählen hinzu: »So, und jetzt lassen Sie mich mal kurz allein, Herr Major. Wenn Stalin mich zur Schnecke macht, braucht das keiner mitzukriegen.«

10

Berlin-Wilmersdorf, britischer Sektor | 09.00 h

»Hier ist RIAS Berlin. Eine freie Stimme der freien Welt. Zu Beginn die Nachrichten. Berlin. Aus noch ungeklärter Ursache sind in der vergangenen Nacht am Grenzübergang Glienicker Brücke zwei amerikanische GIs …«

»Meinetwegen.« Ohne richtig hinzuhören, schaltete Tom Sydow, 35-jähriger Kriminalhauptkommissar, das Radio aus, faltete den Tagesspiegel zusammen und sah durch das Wohnzimmerfenster der in die Jahre gekommenen Villa auf die Koenigsallee hinaus. Er hatte schlecht geschlafen, und er kannte auch den Grund. Es war die Vergangenheit gewesen, die ihn wieder einmal eingeholt hatte. Allen Bemühungen, aus ihrem Schatten zu treten, zum Trotz.

Und so tat der hoch aufgeschossene, breitschultrige und eine Spur zu blasse Berliner mit der rotblonden Mähne genau das, was er bereits Hunderte Male getan hatte. Er rieb die übernächtigten, von dunklen Rändern überschatteten Augen, trat an die bernsteinfarbene Louis-quinze-Kommode und nahm das Porträt zur Hand, das ihn zusammen mit seiner Verlobten Rebecca zeigte. Und wie all die Male zuvor fragte er sich, wann genau das Bild aufgenommen worden war. Die Antwort stand von vornherein fest. Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass es irgendwann im Winter 1944/45 gewesen sein musste. Kurz bevor die V2 eingeschlagen und das Leben der Frau, ohne die sein Leben nur die Hälfte wert war, in Sekundenbruchteilen ausgelöscht hatte.

»Kopf hoch, mein Junge – wird schon werden.« In den Augen ihrer Mitmenschen war Luise von Zitzewitz, geborene von Sydow und Toms Tante, eine eher spröde Frau. Am heutigen Tage war das jedoch anders. Da klang ihre rauchige Stimme ausgesprochen besorgt.

»Das sagt sich so leicht, Tante Lu«, erwiderte Sydow und stellte das Bild wieder auf die Kommode zurück. »Aber …«

»Kein Aber, mein Junge«, erstickte die resolute Hausherrin mit dem rollenden R die Einwände ihres Neffen bereits im Keim. »Es hat einfach keinen Zweck, dass du dich in deinem Kummer vergräbst. Wie lange ist das eigentlich her?«

»Drei Jahre, fünf Monate und vier Tage.«

»So furchtbar es klingt, Tom: Das Leben muss weitergehen.«

»Mag sein, dass du recht hast, Tante Lu«, erwiderte Sydow, knöpfte sein Hemd zu und begab sich zur Tür. »Trotzdem kann ich nicht einfach so zur Tagesordnung übergehen.«

»Sollst du auch nicht, mein Junge«, erwiderte die Hausherrin in ungewohnt zärtlichem Ton. »Vor allem dann, wenn du keinen Bissen zu dir genommen hast. Mit leerem Magen zum Dienst – wo kämen wir da hin!«

Die Hand auf der Klinke, drehte sich Sydow lächelnd um. Gegen den 74-jährigen Adele Sandrock6-Verschnitt kam er nicht an. Und wollte es auch nicht.

»Setz dich, mein Junge. So viel Zeit muss sein.«

»Und wenn ich keinen Hunger habe?«

»Ein Mann in den besten Jahren und kein Hunger – dass ich nicht lache«, duldete Luise von Zitzewitz keinen Widerspruch, hakte sich bei Sydow unter und dirigierte ihn zum Tisch. »Ausgehungert ins Präsidium – kommt nicht infrage.« Um Zweifel an ihrer Entschlossenheit erst gar nicht aufkommen zu lassen, ließ die ehemalige pommersche Rittergutsbesitzerin mit ihrem Gehstock den Parkettboden erzittern, gab ein indigniertes Schnauben von sich und verschwand.

Schachmatt. Sydow lächelte wehmütig in sich hinein und ließ den Blick durch Tante Lus gute Stube schweifen. Perser, Buffet aus Mahagoni, Standuhr und Rokoko-Kommode – wie sie es geschafft hatte, den Plunder in Sicherheit zu bringen, war ihm ein Rätsel. Rein äußerlich jedenfalls schien die Zeit in Tante Lus guter Stube kaum Spuren hinterlassen zu haben, und wie Sydow überrascht feststellte, fühlte er sich eigentlich ganz wohl bei ihr. In London, wo ihm die Erinnerung noch mehr zugesetzt hatte als hier, hatte er es nicht mehr ausgehalten, und so war er heilfroh, bei Tante Lu eine Bleibe gefunden zu haben. Na ja, das mit dem Hindenburg-Porträt über der Chaiselongue war zwar nicht gerade das Gelbe vom Ei. Ernst Reuter7 wäre ihm da schon wesentlich lieber gewesen. Aber immerhin hatte er ein Dach über dem Kopf, in Berlin beileibe keine Selbstverständlichkeit.

»So, da wären wir wieder«, meldete sich Sydows Tante mit einem Tablett voller Köstlichkeiten zurück. Sydow bekam den Mund nicht mehr zu. Pro Tag und Person konnte es der Durchschnittsberliner mithilfe der Lebensmittelmarken auf gerade einmal 1500 Kalorien bringen. Und jetzt tischte ihm Tante Lu Corned Beef, Leberkäse und Rühreier auf. Wenn das mit rechten Dingen zuging, wollte er Winston Churchill heißen.

Oder so ähnlich.

»Von meinem Bridgepartner, Herrn von und zu Grumbkow«, fügte Sydows Tante erklärend hinzu, als sie die entgeisterte Miene ihres Schützlings bemerkte. »Trifft sich gut, einen Untermieter mit Verbindungen zur britischen Militärverwaltung zu haben, oder?«

Und ob sich das gut traf. Der mysteriöse Herr von und zu, Überlebender der Wilhelm Gustloff und der Fuchtel von Tante Lu, hatte für sie bereits mehrfach CARE-Pakete organisiert. Diese und andere Wohltaten hatten die Ex-Rittergutsbesitzerin über die beiden Flüchtlingsfamilien, die im Obergeschoss einquartiert worden waren, rasch hinweggetröstet. »Na klar, Tante Lu«, antwortete Sydow mit reichlicher Verspätung, nachdem sich seine Verblüffung einigermaßen gelegt hatte. »Heutzutage darf man ja wohl nicht wählerisch sein.«

»Schön, dass wir diesbezüglich einer Meinung sind«, stellte Sydows Tante befriedigt fest. »Ob du es nun wahrhaben willst oder nicht, mein Junge: Du brauchst jemanden, der für dich sorgt, nicht zuletzt, weil deine Mutter in London lebt und mein Bruder und deine Schwester bei diesem schrecklichen Bombenangriff am 3. Februar ’45 …«

Bevor Tante Lu alte Wunden aufreißen, leider aber auch, bevor Sydow zugreifen konnte, schrillte das Telefon. Sydow ließ das Tablett stehen und nahm ab.

»Sydow hier.« Das Präsidium, wie konnte es anders sein. Und das ausgerechnet jetzt. »Eine Tote? Und wo? Am Lehrter Bahnhof, aha. Ja, gut, komme sofort.«