Und dann brachte er mir bei, was Ungarn und Russen gemein ist: das Fehlen des Wortes »haben«. Bei mir ist, sagen wir, bei mir ist eine ganze Flasche Wodka. Ja, jetzt, fragt sich nur, wie lange noch. Denn Wodka, Geld oder die Liebe: Sie müssen wandern, vom einen zum andern oder von der Kehle in die Blase, mit kurzem Umweg über den Schädel. Jetzt ist’s bei mir, dann ist’s bei dir, dann ist alles futsch. Mal verliert man, mal gewinnen die anderen. Die Russen, sagte der Großpapa, wüßten so gut wie die ungarischen Nomaden, daß alles in Bewegung sein müsse. Alles, was da geworden ist, ist vergänglich, ist nicht lange bei uns. Das kennzeichne unser Verhältnis zum Eigentum, sagte der Großpapa.
Die Flucht zu ihm war so einfach wie wirkungsvoll, wollte ich hin und wieder vergessen, was ich war, wenn ich von den Hiesigen mal wieder als Nicht-Hiesiger beschimpft wurde, meist nach dem Lauftraining, wenn die anderen in ihren verschwitzten blauen Sportklamotten durch die Straßen schlenderten und sauer auf mich waren, weil der Ungar, der »rasende Zigeuner«, den Staffelstab hatte fallen lassen, aus Unachtsamkeit. Oder Übereifer.
Gott schütze uns vor den Kleinstädtern! Wer in diese Welt hineingeboren ist und nur mit einem Haar zu wenig aufwächst, wer nicht quer in dieses Maul paßt, um ihm verabreicht zu werden, der wird sich nicht biegen. Der wird brechen.
Kapitän Nemo
Plötzlich stand er vor mir mit seinen flachsblonden Haaren und der ein wenig zu ausladenden und zugleich zu kurzen Stoffhose, über den Knöcheln mit einer Kordel verschnürt, damit die Hosenbeine nicht schlackerten. Das Lauftraining hatte gerade begonnen, wir sollten ein paar Runden traben, und da ich die Schnürsenkel zuhause nicht richtig zugemacht hatte, wollte ich sie nachbinden. Ich kniete, und die Sonne, die ohnehin nicht wärmen wollte, verdunkelte sich. Blinzelnd sah ich auf.
Stanislau war schlaksig, mindestens einen Kopf größer als ich. Ein zäher Langläufer mit Pferdelunge, obwohl man munkelte, er habe schon zu rauchen begonnen. Dabei war er gerade einmal dreizehn Jahre alt. Und ich zwölf.
»Ja?« fragte ich, während ich langsam aufstand, Auge in Auge mit dem anderen, wie ein streunender Kater, der sein Revier verteidigte, jeden Moment den Angriff des Artgenossen erwartend.
»Du weißt etwas vom Tümpel, oder?«
»Vom Polentümpel?«
»Sag nicht ›Polentümpel‹.«
»Wie soll ich denn sonst sagen?«
Wir hatten eine Geste unseres Trainers aufgefangen, einander umkreisende Zeigefinger, die dazu aufforderte, uns endlich zu bewegen, und so waren wir ins Traben gekommen.
»Wie soll ich sonst dazu sagen, hä?«
»Mir egal, nur nicht Polentümpel.«
Nur nicht Polentümpel, so ein Quatsch! Alle sagten sie Polentümpel. Ein Tümpel, so tief, daß auf seinem Grund Höhlen sind, Höhlen mit Gängen, die man schwimmend durchqueren, durch die man auf die andere Seite, nach Polen gelangen kann.
Im Krieg, erzählte Jefim Abramawitsch, habe man so Informationen über die Front geschmuggelt, hinter dem Rücken der Deutschen. Aber vielleicht hieß der Polentümpel auch Polentümpel, weil die Sowjets nach dem Krieg darin polnische Offiziere ersäuften, die noch immer nicht verstanden hatten, daß das mittlere Streichholz abgebrannt war und nun die Sowjets hier herrschten, und mit ihnen die russische Sprache.
Wohl jeder Achtjährige hatte schon im Polentümpel getaucht, aber natürlich war jedem ziemlich schnell die Luft ausgegangen, und er hatte nach dem Auftauchen sein besonderes Abenteuer zu erzählen gehabt: einen Kampf mit Schlingpflanzen, oder den Ungeheuern der Tiefe, oder einfach nur mit dem aus Angst vor dem Ertrinken verrückt spielenden Darm.
»Soll ich nicht Polentümpel sagen, weil du Pole bist?« Stanislau fiel hinter mich zurück, aus den Augenwinkeln sah ich, daß seine Lippen zuckten.
»Ich bin kein Pole. Ich bin Weißrusse.«
»Mein Großpapa sagt, ihr seid Polen. Katholische Konterrevolutionäre. Wahrscheinlich seid ihr Faschisten.«
Ich spürte, wie etwas mein nach hinten auspendelndes rechtes Bein mit Schwung nach links beförderte. Es verhakte sich hinter dem anderen und ich fiel mit dem Gesicht auf die Grasbahn.
»Du nennst uns nicht Faschisten!« brüllte Stanislau und kniete schon auf mir, mit einem Arm wandte er einen Polizeigriff an, mit dem anderen zog er mich am Haar.
»Dein Großvater ist ein KGB-Spitzel, das weiß doch jeder. Und ein geiler Bock und Zigeuner dazu. Und du bist auch nicht besser, du lümmelst doch immer nur mit deinen Tanten rum!«
Stanislau preßte mein Gesicht auf den Boden. Das Gras roch nach Scheiße. Es war unmöglich, etwas gegen ihn zu unternehmen, er war zu schwer und saß so geschickt auf mir, daß ich ihn nicht boxen konnte. Und ihn mit der freien Hand zu kratzen verbot mein Jungenstolz. Meine Nase begann zu bluten, dann spürte ich, wie das Gewicht auf meinem Rücken leichter wurde und eine Hand nach der meinen griff. Kaum war ich aufgestanden und hatte mir haftengebliebene Halme aus dem Haar und vom Trainingsanzug gestreift, spürte ich, wie dieselbe Hand mein Ohrläppchen zog. Jefim Abramawitsch schleppte Stanislau und mich im Klammergriff zum Ausgang. Die anderen lachten, lachten über uns beide. »Da schlägt sich das Pack!« riefen sie.
Jefim Abramawitsch ließ in seinem Griff nicht nach, im Gegenteil, je mehr wir jammerten, desto fester zog er. Ich spürte, wie sich mir einer seiner Fingernägel ins Fleisch bohrte.
»Rachmones«, schimpfte er, »so eine Schande! Gerade ihr beiden solltet doch zusammenhalten!«
Das Training war für heute beendet. Jefim Abramawitsch schüttelte den Kopf, als er hinter uns das Tor zum Sportgelände verriegelte. Dann scheuchte er uns mit ausladenden Wischbewegungen seiner großen Hände davon wie lästige Fliegen. Vom Grasplatz hörte ich noch immer das Feixen der anderen.
Stanislau und ich hatten den gleichen Heimweg, aber natürlich gingen wir auf verschiedenen Seiten der Straße, er rechts, ich links. Ich sah, wie er immer wieder nach Birkenreisern, die am Straßenrand lagen, griff, und sie, vor sich hinbrabbelnd und dabei hin und wieder auch einen Fluch ausstoßend, zwischen den Fingern zerbrach. Von fern war das Dröhnen einer Propellermaschine zu hören. Der Wind trug den Geruch von Bärlauch mit sich.
»Dabei wollte ich doch nur wissen, ob du mal im Tümpel getaucht hast.«
Die Ansprache kam unerwartet. Ich beobachtete ihn über die Straße hinweg.
»Ob du was gesehen hast.«
Ich schwieg.
»Vielleicht eine kleine Höhle oder sowas.«
Ich schwieg. Stanislau wurde immer leiser.
»Die anderen muß ich ja gar nicht fragen. Die bereiten sich für die Komsomol vor und reden über sowas nicht mit mir.«
Ich blieb stehen.
»Du willst tauchen?« fragte ich, während zwischen uns Staub vom Pflaster aufstieg, den ein vorbeifahrender LKW aufgewirbelt hatte, »rübertauchen nach Polen?«
»Hör bloß mit Polen auf!« schimpfte Stanislau und blieb jetzt ebenfalls stehen.
»Gut. Aber tauchen willst du. Weil… weiclass="underline" Ich will auch tauchen.«
Diesmal schnitt uns ein roter Moskwitsch Stimme, Gehör und Blickkontakt ab.
»Komm zu mir rüber, ich hör dich nicht«, rief Stanislau. Vor unseren Augen kreuzten zwei MTS-Schlepper den Weg, die Traktoristen begrüßten einander durch Handzeichen.