»Komm du doch«, rief ich.
»Nein.«
»Doppelnein.«
»Dann treffen wir uns morgen am Tümpel.«
»Um drei.«
»Um vier.«
»Also um fünf.« Schon als Jefim Abramawitsch uns vom Polentümpel mit seinen Unterwassergängen erzählt hatte, beschloß ich, eines Tages als erster die Durchquerung zu wagen. Dann wäre ich nicht nur der rasende Zigeuner, wie mich die anderen Kinder nannten, sondern auch der beste Taucher weit und breit.
Natürlich war mir bewußt, daß es dazu einiger Planung bedurfte, ich wollte ja nicht so blöd sein, mit bloßer Atemluft runterzugehen, um ebenso erbärmlich zu scheitern wie Generationen von Hiesigen zuvor. Also fragte ich Großpapa um Rat.
»Nur mal angenommen, man müßte lange tauchen. Wie macht man das?«
»Lange üben.«
»Nein, ich meine: Wenn man tauchen müßte mit Geräten und so.«
»Geräte, oho! Laß mal sehen. Na, da brauchst du erst einmal viel Luft, ist ja klar. Und etwas wegen dem Druck. Und vernünftige Klamotten, weil es arschkalt wird im Wasser…«
Undundund. Ich schrieb so fleißig mit, als würden mich diese Notizen wie von selbst auf die andere Seite tragen.
Als ich mich mit Stanislau am Polentümpel traf, konnte ich bereits mit meiner Liste glänzen. Und einer Zeichnung, die zeigte, wie man auf die andere Seite käme. Sie war nicht ganz maßstabsgetreu. Und ging von Höhlen aus, von denen ich rein gar nichts wußte.
Stanislau war wenig beeindruckt. Beide blieben wir skeptisch, ob wir unsere Ideen und unsere Planungen tatsächlich zusammenwerfen sollten. Aber da bislang noch keiner von uns den entscheidenden Schritt unternommen hatte, begann uns zu dämmern, daß wir es allein nie wagen würden. Und das gab den Ausschlag.
»Man bräuchte etwas zur Orientierung unter Wasser«, sagte Stanislau, während wir an der Uferböschung saßen und auf den schmutzig braunen Tümpel blickten. Von allen Seiten war hochfrequentes Froschquaken zu hören. Hin und wieder plumpste etwas ins Wasser. Stanislau bereitete eine Belamorkanal vor. Die Kunst bestand darin, ihren mehrere Zentimeter langen Zigarettenfilter so umständlich zu knicken, daß der beißende Gestank und die unbeschreibliche Hitze in der Röhre keine größeren Schäden beim Konsumenten anrichteten. Stanislau war geschickt, er schien wirklich einige Übung darin zu haben, knack, knack, knack, fertig war er, er sah kaum hin dabei.
»Stell dir vor, es sind richtig viele Höhlen, so richtig viele, und die zweigen hier ab und dort ab, wie schnell du die Orientierung verlierst. Und dann weißt du irgendwann auch gar nicht mehr, in welcher Richtung hier ist und in welcher Richtung – «
»Polen!«
» – drüben.«
Die Zigarette flammte mit einem leisen Knistern auf.
»Kennst du Jules Verne?«
»Sprinter?« fragte ich.
Stanislau sah mich beunruhigt an. Dann zog er aus seiner Sporttasche ein Buch: Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer. Von Jules Verne. Ich wunderte mich. Ganz so tief, dachte ich, würde es im Polentümpel nicht runtergehen.
Stanislau erzählte mir von Kapitän Nemo, von der zu erwartenden Unterwasserwelt. Und dann zeigte er mir seine Zeichnungen, die zumindest maßstabsgetreu schienen. Über Tauchbrille, Kompaß und Messer war er bislang mit seiner Ausrüstung nicht hinausgekommen. Von Großpapa und Onkel Janka unterstützt, steuerte ich eine Sauerstoffflasche sowie zwei Atemschutzgeräte nebst Schläuchen bei; »vom Zug gefallen, Janka hat sie mitgenommen, bevor sie noch jemand stiehlt«, sagte Großpapa, schneuzte sich ergiebig und schüttelte das Taschentuch aus.
Als Taucheranzüge sollten uns alte Kunstlederflicken dienen, die wir aufs Geratewohl aneinandergenäht hatten. Sie waren einigermaßen warm und saugten sich nicht voll. Zwei Monate waren über dieser Arbeit vergangen.
Stanislau hatte eine sieben Jahre jüngere Schwester, die er seit kurzem immer zu unseren Treffen mitbrachte. Hinten, auf dem nur noch an zwei Schrauben befestigten Gepäckträger seines Fahrrads saß sie, klein und pummelig, ganz das Gegenteil ihres schon beinahe männlich wirkenden Bruders. Eigentlich störte sie nicht, ich nahm sie kaum wahr, bei keiner Zusammenkunft dieser Tage hätte ich sagen können, ob Jadwiha wirklich bei uns war oder nicht. Sie mußte mit von der Partie gewesen sein, weil sie buchstäblich immer da war, aber sie war nicht zu bemerken, saß still auf ihrem Platz und spielte mit ihrer Stoffpuppe, sprach nicht, antwortete nicht, wenn sie gefragt wurde, verriet uns aber auch nie.
Trotzdem quengelte ich ein ums andere Mal.
»Ehrlich, Stas, muß das sein? Ich nehm meine Tantchen ja auch nicht überallhin.«
»Ja, ich soll auf sie aufpassen. Es geht ihr nicht gut.«
Es ging Jadwiha nie gut. Sie war entweder krank oder verzweifelt. Dabei war sie gerade einmal sechs Jahre alt.
»Ist es so schlimm, daß sie da ist?«
»Auf einer Skala von eins bis zehn, eins harmlos, zehn schlimm«, immer öfter drückte ich meine Empfindungen nun in Zahlen, auf Skalen aus, »so um die sieben.«
»Sieben ist gut. Damit kann ich leben«, sagte Stanislau und knickte einen neuen Zigarettenfilter. Siebenmal.
In den folgenden Wochen waren wir Tag für Tag am Tümpel und verbesserten unsere Ausrüstung. Die Tests fielen zu unserer Zufriedenheit aus, wir versuchten, im Flachwasser mit dem Kopf nach unten zu atmen. Als das überraschend gut funktionierte, unternahm Stanislau kleine Tauchgänge ins Tiefere, auch um zu sehen, ob unsere Ledermontur hielt. »Positiv«, kommentierte er den Vorgang, aber er schlotterte, obwohl es noch nicht spät im Jahr war.
Aber doch spät genug. Eines Tages sagte er, wir müßten den Tauchgang in den Frühling verschieben. Das Wasser würde zu kalt werden, die Ausrüstung sollten wir auch noch einmal überprüfen, und außerdem mache ihm Jadwiha Sorgen. Ich war stocksauer. Wegen seiner kleinen Schwester wollte ich mich nicht um die Möglichkeit bringen, schon zu Weihnachten ein Held zu sein. Aber Stanislau tat wie ein Erwachsener und sprach »ruhig« und »vernünftig« auf mich ein, wie es die Erwachsenen tun, wenn sie einem grundlos mal wieder allen Spaß verderben wollen. Also gab ich klein bei, sorgte nur dafür, daß wir unsere Ausrüstung nicht aufteilten, sie sollte in Großpapas Garage überwintern. Stanislau packte seine Schwester hinten aufs Rad, ich wollte unseren Krempel mit einer kleinen Handkarre nach Hause ziehen. Wir verabschiedeten uns bis morgen in die Schule. Ich winkte dem noch mehr als sonst schwankenden Zweiergespann Lebewohl, und kehrte mich, kaum waren sie außer Sichtweite, wieder dem Ufer zu. Wenn Stanislau warten wollte: bitte, aber ich würde jetzt nicht kneifen. Nicht nach all den Wochen, die ich mit Vorbereitungen zugebracht hatte, die mich den letzten Nerv und den einen oder anderen Gegenstand, der nicht wollte, wie ich wollte, das Leben gekostet hatte. Jetzt mußte es sein! Was sollte schon passieren, mir würde ein wenig kalt werden, ich hätte einen Schnupfen, und ich hätte Stanislau gezeigt, daß wir schon längst soweit waren. Man müßte endlich etwas wagen. Das war unser ganzes Problem: niemand traute sich, endlich einmal etwas zu wagen.
Die Sonne spiegelte sich khakifarben auf der Wasseroberfläche. Hin und wieder sah man kleine Luftblasen auf ihr zerplatzen.
Ich war erstaunt, wie leicht es ging, wie leicht es war, unter Wasser zu atmen. Daß es da einen seltsamen Druck gab auf meine Augenhöhlen, in meinen Ohren, in meinem Kopf, beachtete ich nicht angesichts der Faszination, unter Wasser atmen zu können wie ein Fisch. Und weil es überhaupt nicht dunkel war, ging ich tiefer. Und noch ein Stück tiefer. Und noch eines. Und ich dachte, ich müßte bald den Grund erreicht haben. Aber nun wurde die Sicht wirklich immer schlechter, ich tat ein paar Schwimmzüge und wirbelte dabei soviel Schmutz auf, daß ich gar nichts mehr sah. Und dann dröhnte es in meinem Kopf. Nur noch dies Dröhnen, als ob ein Unterseeboot an mir vorüberführe, rechts, links, oben, unten. Ich erschrak, versuchte mich wieder auf das Atmen zu konzentrieren. Ich mußte nach oben. Aber ich hätte nicht mehr genau angeben können, wo oben war und wo unten, weil mein Kopf zersprang und ich keine anderen Gedanken fassen konnte außer: Atmen, kein Wasser schlucken, Atmen, Atmen, Atmen. Ich tat einige kräftige Strampelbewegungen mit den Beinen, dann wurden sie hart wie nach einem langen Sprint. Wasser drückte in meinen Mund, der Hustenreflex zog noch mehr Flüssigkeit hinterher. Es war, als fiele ich kopfüber. Dann schlug etwas hart gegen meinen Schädel, ich spürte ein Ziehen an der Schulter und sah eine gewaltige Portion Licht.