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Brechreiz. Als ich mich meinem Magen hinterherkrümmte, war der Kopfschmerz so stark, daß mir die Sinne sofort wieder zu schwinden drohten. Eine Hand klatschte mir ins Gesicht. Bitte nicht mit dem Handrücken, dachte ich. Ich, der Kainssohn. Dann näherte sich Jadwihas Puppe meinen Augen, schwankte vor ihnen wie ein Besoffener hin und her.

»Hallo«, sagte ich schwach.

»Hallo«, antwortete die Puppe mit außerordentlich munterer Kinderstimme, »du bist nicht tot, oder?«

»Nein, der ist nicht tot, der ist ein Idiot, aber er ist nicht tot.«

Die Puppe streichelte mir ein wenig über die Nase, aus der noch immer Wasser lief. Es kitzelte.

»Gott sei Dank ist er nicht tot.«

Dann verbreitete sich der beißende Rauch einer Belamorkanal.

In dubio pro Deo

Was mir von dem Tauchgang geblieben ist: ständig wiederkehrende Migräneanfälle. Ich kämpfte zwei Wochen lang mit den direkten Nachwirkungen. Mein Nasenbluten, meine Kopfschmerzen wurden hingenommen wie jedes andere kindliche Unwohlsein. Nur Tatsiana erzählte ich davon, bei ihr war ein Geheimnis gut aufgehoben, und im Gegensatz zu Großpapa würde sie mir auch keinen Vorwurf machen. Sie wußte, daß es meine einzige Chance war, die Welt zu entdecken, und zugleich mich dieser stumpfsinnigen Welt um mich, um uns, zu entdecken. Ihre Reaktion bestätigte lediglich ihr noch immer hellwaches medizinisches Interesse: Sie sorgte sich um meinen Geisteszustand, den nach dem Tauchgang, und so stellte sie mir hin und wieder kleine Rechenaufgaben, oder sie fragte mich Vokabeln im Deutschen ab, um die Bestätigung zu erhalten, daß mein Gehirn nicht oder nicht entscheidend gelitten hatte.

Ich ging weiter ins Lauftraining, trabte ein paar Runden, bis mir Blutstropfen unter der Nase hingen. Jefim Abramawitsch schickte mich wieder nach Hause, aber ich wollte dableiben, bei Stanislau bleiben. Und vielleicht auch bei Jadwiha und ihrer Puppe, die nun überall mit von der Partie waren.

Jadwihas Puppe hieß Agata. Wahrscheinlich weil sich, wie bei ihrem heiligen Urbild, an der Stelle, an der der Oberkörper sein sollte, nur eine ganze Reihe von Wollknoten befanden, die die auseinanderlaufenden Einzelfäden zusammenhielten, aus denen sie bestand. Stanislau stammte aus einer katholischen Familie, die es unter den Sowjets nicht leicht hatte. Schon der Umstand, daß die Hiesigen zwischen den Kriegen Polen waren, stellte sie unter den Generalverdacht, Reaktionäre zu sein. Jede Form von Religion war der Sowjetunion suspekt, aber der Katholizismus war die verhaßteste. Zur alten Feindschaft der Orthodoxen kam hinzu, daß er einst die Religion der polnischen Adligen war. Also hielten die meisten weißrussischen Katholiken die Klappe und kehrten ihren Weihrauchschwenkern den Rücken. Nur Stanislaus Eltern lebten ihre Maxime öffentlich, so gut es eben ging. Die Maxime lautete: In dubio pro Deo.

Schon in der weißrussischen und polnischen Namenswahl ihrer Kinder konnte man so etwas wie Dissidententum erkennen. Dem Stanislau allerdings nicht so recht entsprechen wollte. Er las Marx und Lenin, ohne daß man ihn in der Schule dazu hätte anhalten müssen. Er las nicht nur über die Geschichte des Sozialismus, er studierte sie, und das in einem Alter, in dem andere unserer Klassenkameraden damit beschäftigt waren, herauszufinden, ob es sich mehr lohnte, mit dem Rauchen oder mit dem Wichsen zu beginnen, oder mit beidem.

Bis zum jähen Tod seiner kleinen Schwester.

Mit einem Mal hatte Stanislaus Leben kein Ziel, sein Verantwortungsgefühl keine Zuflucht mehr.

Auch ich vermißte Jadwiha, vermißte Agata, die mir das Leben gerettet hatte. Sie war am Tümpel zurückgelassen worden, und Jadwiha hatte ihren großen Bruder mit einer vom Durchgerütteltwerden auf dem Fahrrad bebenden Stimme gebeten, doch noch einmal zurückzukehren, die Puppe würde sich fürchten die Nacht über allein da draußen. Nie wieder würde Jadwiha unsere Zusammenkünfte teilen als der kaum anwesende Beobachter, der doch immer mehr zu einem Mitverschworenen geworden war.

Für Stanislau aber war es, als hätte man ihm ein Organ seines eigenen Körpers entfernt. Er litt unter dem Tod der Schwester, wie ich nie wieder jemanden habe leiden sehen. Er brach mit allem, was ihm an- und zugehörte: mit Marx und Lenin, mit dem Traum vom Tauchen, mit den Mädchen unserer Klassenstufe, deren Herzen ihm nur so zuflogen. Vor allem aber brach er mit seiner Kindheit. Und begann, sich selbst neu zu erfinden.

Ein amerikanischer Analytiker hätte vermutlich konstatiert: Schuldgefühle, denen unbewußte Tötungswünsche vorausgegangen waren für das Wesen, das er beaufsichtigen mußte, das mehr als nur einmal eine Romanze verhindert hatte mit einem miniberockten jungen Ding; eine ganze Skala an Schmerzgedanken eben, Töne rauf, Töne runter, man kann sich alles erklären, man kann sich alles hinreden.

Fakt ist, daß seine Eltern Stanislau nie gezwungen hatten, Jadwiha mitzunehmen, daß er geradezu versessen darauf war (und ich habe mich schon damals gefragt, ob sie das selbst eigentlich mochte, eingedenk des tobsüchtig sich nach allen Richtungen werfenden Gepäckträgers, von dem abgestiegen sie noch minutenlang an allen Gliedern zitterte). Fakt ist, daß Stanislau trachtete, ihr beizubringen, was er wußte, mit geduldigem Eifer, während sie ihm unbeteiligt, aber nicht unaufmerksam dabei zusah. Es mochten die Momente gewesen sein, die Jadwiha aus ihrer Stumpfheit zogen. Und uns versicherten sie, daß sie tatsächlich an unserer Welt teilnahm und nicht, wie hochrangige Spötter unter den Leichtathleten behaupteten, einfach nur komplett plemplem war. Stanislau suchte ihr seine Welterfahrung einzuimpfen, sie mit ihren sieben Jahren mit all dem zu versehen, was er in seinen vierzehn gesammelt hatte, suchte sich verstandesmäßig zu reproduzieren, rasch und unermüdlich, so als ob er derjenige wäre, der bald sterben und sich vergewissern müßte, daß alles seinen Platz hätte in der kleinen, lebenstüchtigen Schwester.

Es kam anders. Und ging sehr schnell. Jadwiha klagte eines Freitags über Bauch- und Kopfschmerzen, nichts Ungewöhnliches für das Kind, aber die Heftigkeit, mit der sie diesmal auftraten, alarmierte die Familie. Ich sah Stanislau auf seinem Fahrrad an unserem Haus in die eine, dann, eine halbe Stunde später, einen Arztwagen in die entgegengesetzte Richtung jagen. Einen Tag später war Jadwiha tot. Multiples Organversagen. Irgendwie liege es in der Familie. Sagten die Ärzte.

Der Lebenstüchtige war er, er mußte es sein, den trostlosen Eltern eine Stütze, noch mehr die Stütze seiner selbst. Stanislau begann, sich selbst neu zu erfinden, jetzt, da er weiterleben mußte, da er die Aufgabe und Verpflichtung hatte, an seiner Schwester statt weiterzuleben, nachdem er sich als unfähig erwiesen hatte, Verantwortung für die Kleine zu tragen, die noch leben könnte, hätte er nur auf sie aufgepaßt, hätte er sich nur rechtzeitig selbst geopfert, diese ganze Skala an Schmerzgedanken eben, Töne rauf, Töne runter.

Einige Zeit nach Jadwihas Tod bekamen Stanislaus Eltern Besuch von einem Verwandten aus Moskau. Er hatte Karriere in der Partei gemacht, war ein Anhänger Gorbatschows, raunte, hinter vorgehaltener Hand habe er von einer ziemlich unguten Sache erfahren, die in Tschernobyl passiert sei. Wir rätselten. Was war Tschernobyl? Großpapa schlug im Atlas nach und fand eine gleichnamige Stadt in der Ukraine. Und Stanislau gab weiter, was er zuhause gehört hatte: daß da, in der Nähe von Homyel, irgendetwas passiert sei mit Atomen. Großpapa bat ihn, nicht weiter zu schwatzen, von Atomen verstünden wir nichts. Trink, und laß es nicht wiederkommen.