Выбрать главу

Auch mit Atomen mochte etwas passiert sein, ja, aber was hauptsächlich passierte, war, daß Stanislau erst jetzt erfuhr, daß wir alle erst jetzt erfuhren, was sich am Südostrand von Belarus wirklich abgespielt hatte. Mit seiner verhinderten Opferbereitschaft und der ganzen Zähigkeit seines Langläuferlebens durchstöberte Stanislau die Bibliotheken in Hrodna nach Büchern über Radioaktivität, über Spätfolgen radioaktiver Strahlung, über Leukämie und Schilddrüsenkrebs und multiples Organversagen. Und begann, nicht nur sich selbst, sondern auch dem System die Schuld an Jadwihas Tod zu geben; dem System, das die Bevölkerung nicht unterrichtet hatte, das uns Tag für Tag mit dem Wind aus Südost im Rücken in die Schule gehen, uns ins stille Verderben rennen ließ. Sonst hätten wir das Gemüse aus dem Garten und die Pilze aus dem Wald doch nicht gegessen. Sonst wäre Stanislau mit der kleinen Jadwiha doch nicht so oft nach draußen zum Spielen gegangen, um sie mit Sand zu bedecken, bis nur noch die Arme hervorlugten, die Agata hielten, und das schmale Kindergesicht, das stundenlang gluckste und strahlte, strahlte, strahlte.

Noch wollte niemand so recht auf Stanislau hören, schon gar nicht seine Eltern, die im frühen Tod der Tochter nichts als eine Strafe Gottes für ihre eigenen Verfehlungen sahen. Und im Grunde seines Herzens glaubte auch Stanislau, daß das Gerede über den »nuklearen Genozid«, das endlich im ganzen Land laut wurde, nichts als eine Ausrede für sein Versagen als großer Bruder war. Stanislau war verzweifelt bemüht, seinen Eltern alles recht zu machen und für zwei Kinder zu leben, aber was er auch tat, es war nicht gut genug. Eines Nachmittags kehrten wir vom Lauftraining zurück. Vor dem Block, in dem Stanislau lebte, erwartete uns seine Mutter, die uns mit Stirnrunzeln begrüßte. Sie fragte, ob er daran gedacht habe, zu Kaslou zu gehen, Milch und Eier mitzubringen. Stanislau schlug sich vor die Stirn, er ließ seine Tasche fallen, wollte auf der Stelle kehrt machen, da hörte ich seine Mutter mit vor Enttäuschung und Lebensüberdruß dünner Stimme sagen:

»Ach, laß.«

Nicht mehr als dies: Laß, bevor sie sich selbst, wie schicksalsergeben, auf den Weg machte. Laß, schien sie zu sagen, darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an. Laß, schien sie zu sagen, hättest nicht du an ihrer Stelle sterben können. Laß, von dir erwarten wir nichts anderes, wie solltest du an Milch und Eier denken, du hast ja nicht einmal an deine Schwester gedacht. Und hätte Stanislau an Milch und Eier gedacht, wäre es kaum anders gewesen: Laß, du kannst an Milch und Eier denken, nicht aber an deine Schwester.

Stanislau war vernichtet. Ich versuchte ihn zu trösten, aber es gelang mir nicht. Selbst als ich ihn daran erinnerte, daß er mir das Leben gerettet hatte, fand ich keinen Widerhall, keinen Anklang, drang nicht zu ihm durch. Nach dieser Szene lag ich die halbe Nacht wach und zerbrach mir den Kopf darüber, wie ich Stanislau helfen, wie ich ihn für meine Rettung entschädigen könnte. Aber schon am nächsten, ziemlich unausgeschlafenen Morgen hatte ich meine eigene Portion Lebensgift zu schlucken. Als mich Alezjas und Vaters Stimmen aus dem Bett riefen. Als ich ihre Schritte hörte, treppab, treppab, treppab.

Verlottern

Mehr als ein Jahr war Großpapa nun schon tot, und ich hatte ihn noch immer nicht gefunden. Dafür hatte Jefim Abramawitsch aufgehört, von oben beschwörend auf meine Wachstumsregionen einzusprechen. Ich hatte quasi über Nacht optimale Sprintergröße erlangt und überragte ihn um Zentimeter. Sieben Härchen sprossen mir am Kinn und drei über der Oberlippe. Noch vor dem Frühstück, das wir vier Kinder nun immer häufiger ohne Erwachsene einnahmen (Mutter blieb tagelang im Bett), häckselte ich den Flaum mit Vaters Rasiermesser klein. Bei Tisch blutete ich voller Stolz unter den Pflastern hervor.

»Böse Pickelchen?« fragte Tatsiana, zog Mund und Nase zu einer Schnute, die niedlich und angriffslustig zugleich aussah, und näherte ihren Zeigefinger meinem Gesicht. Ich ergriff ihn, schob ihn zurück in die demilitarisierte Zone und sagte: »Vaterländische Pflicht.«

»Du bist ein Held!«

»Ich weiß.«

Nach dem Mittagessen rächte ich mich mit einem pudelnassen Waschlappen, den ich der Schlafenden aus nächster Nähe ins Gesicht klatschte. Ihr Sonnenbaden war jäh beendet, nun ging es im Schweinsgalopp über die Wiesen und durch die Maisstauden, die hinterm Haus in den Himmel schossen. Und weil ich der bessere Läufer war, arbeitete mein Tantchen mit den fieseren Tricks, warf mir Maiskolben hinterher, schnellte mir die Stengel zwischen die Beine. Bei dem sich anschließenden Ringkampf lag ich auf ihr, preßte ihre Schenkel mit meinen Knien auseinander, drückte ihre Arme zu Boden. Tatsianas Kleid war bis weit über die Taille hochgerutscht, seine Träger fielen zu beiden Seiten der Schultern herab und entblößten den lilafarbenen Halo einer Brustwarze. Beide hatten wir hochrote Köpfe, unsere Finger waren ineinander verkrampft, wir rochen des anderen Atem, und keiner wollte zuerst loslassen, es war ein Spiel, unser Spiel seit jeher.

Es war längst kein Spiel mehr, das Großmama beobachtet hatte, und so berief sie den Familienrat ein. Wir waren zu alt für solche Spiele. Die Spiele waren zu riskant geworden. Nach diesem Ringen mußte ich mir nicht nur die grasverschmierten Ellenbogen waschen. Ich wechselte auch die Unterwäsche.

»Verlottern« war das Wort, das Großmama gebrauchte, es gab für sie kaum ein schlimmeres: »Verlottern wird der Junge.« Verlottern, das war schon immer das Gräßlichste, was sich diese Familie überhaupt zu denken und vorzustellen vermochte. Verlottern bedeutete den Anfang vom Ende. Es hatte zu tun mit – ja, womit eigentlich? Es hatte mit so ziemlich nichts Konkretem zu tun, es war, recht besehen, sogar die Abwesenheit von allem Konkreten, und das war vielleicht das Allerschlimmste: daß die Familie zu »verlottern« nicht einmal ein passendes Bild fand. Denn das Bild des Säufers, der im Rinnstein an seiner eigenen Kotze zu ersticken drohte, taugte nicht, das ähnelte Vater zu sehr, Wochenende für Wochenende immer mehr, aber der drohte nicht zu verlottern, im Gegenteil, denn mit steigendem Wodkakonsum scheffelte er mehr und immer noch mehr Geld. Wer verlottert, wird dabei nicht reich, das war, was feststand, was feststehen mußte. Großmama grub tief in ihrem Tagebau der Tugenden. Und endlich förderte sie Begriffe zutage. Begriffe, mit deren Hilfe sie verschwieg, daß es eigentlich nur meine Neigung zu Tatsiana war, die sie als gefährlich ansah. Disziplin und Respekt, hallte es von den nackten Wänden wieder. Man müsse wenigstens versuchen, einen disziplinierten und respektvollen Sowjetbürger aus mir zu machen, der es zu einem disziplinierten und respektvollen Sowjetberuf bringen würde. Polizist. Schlafwagenschaffner. Lauftrainer.

Mutter sagte wie immer gar nichts, sie zuckte nur hin und wieder verstohlen mit den Schultern und bemühte sich, nicht mit offenem Mund zu gähnen. Und Vater nuckelte lange an seinem gebratenen Fisch, von Zeit zu Zeit spuckte er die Gräten auf einen Teller, den er auf Kinnhöhe hob. Für ihn waren die Jahre nach dem Tod des Alten Aufbruchjahre. Endlich konnte er seinen Geschäften mit Onkel Janka in Ruhe nachgehen, ohne das unaufhörliche Dazwischenreden und den Spott des Alten. Immer wenn ich ihn fragte, woher das viele Geld denn nun stamme, murmelte er irgendetwas von »Perestrojka« und zog die rechte Augenbraue hoch.

(Ich übernahm Antwort wie Geste auf die Frage, wovon ich denn eigentlich mein Studium finanzierte – nur eine Augenbraue hochziehen, allein das zu üben hat mich Wochen gekostet).

Wenn die Braue wieder sank, sah er mich mit einem unsteten Flackern in den Augen an. Es war dasselbe, das ich beobachtet hatte, wenn Vater und Großpapa miteinander sprachen – oder, was heißt schon »sprachen«, wenn Großpapa eine Bemerkung auf Vaters Kosten machte und der nichts zu erwidern wagte oder nichts zu erwidern in der Lage war. Dieses Flackern. Ich deutete es auf mich, deutete es als: Der Junge ist wie sein Großvater, der Junge fragt zuviel, der Junge muß weg.