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Ich ging nach Hause und wunderte mich, wie groß Marya geworden war. Sie fand kaum mehr Platz auf meinem Arm. Ich spielte Väterchen Frost für sie, der Rest agierte als schimpfendes Volk: Alezja weigerte sich, das Schneeflöckchen zu geben, Großmama war beleidigt, weil Tanja und ich nicht rechtzeitig zum katholischen Fest nach Hause gekommen waren. Und sie weigerte sich, zum orthodoxen nachzufeiern. Vater war besoffen wie immer, aber zugleich suchte er merkwürdig gerührt meine Nähe, ich dachte, er dachte, ich hätte inzwischen irgendeine Art männlicher Initiation hinter mir, oder vielleicht roch er auch einfach nur die hormonellen Ausdünstungen des geschlechtsreifen jüngeren Männchens, Duschtag war ja schon eine Woche her. Mutter drückte mich, ohne rechte Überzeugung, wie mir schien, und Alezja war so fett geworden, daß sich ihr Bauch bei unserer Umarmung fast zu wohlig an meinem Schritt rieb.

Und Tatsiana?

»Komsomolzenlager. Du mußt schon mit mir vorlieb nehmen«, frotzelte Alezja.

Ich war überrascht. Noch zu Großpapas Lebzeiten hatten er und Großmama einander neutralisiert in Fragen der ideologischen Erziehung. Die Formel, die dabei herauskam, lautete: Pioniere ja, Komsomol nein. Selbst als mein Lauftrainer eines Tages vorsprach und erklärte, aus mir könne noch etwas werden, aber ohne Eintritt in die Komsomol müßte ich immer eine halbe Sekunde schneller sein als alle anderen, erklärte Großmama, die Geschwindigkeit sei ein Geschenk des Herrn, und wenn Gott mich laufen sehen wolle, würde er schon für die halbe Sekunde sorgen. Jefim Abramawitsch raufte sich das Haar, aber niemand hielt dagegen. Vater, weil er gerade nüchtern war und vom Laufen ohnehin nichts verstand, Mutter, weil ihr sowieso alles egal war, Großpapa, weil ihn die Motoren riefen und er sich nicht in offene Feldschlacht mit Großmama begeben wollte.

Und ausgerechnet jetzt, nach Großpapas Tod, mit dem Untergang der Sowjetunion, war Tatsiana Komsomolzin geworden?

»Wird nicht schaden. Schließlich will sie Medizin studieren.«

Ich sah Alezja an, schnaufte, hoffte, daß wir eines Tages in einem Land leben würden, in dem man keine vorgezeichneten Gesinnungslaufbahnen durchhecheln mußte, um etwas zu werden.

Wie sollte ich mich verhalten? Einerseits war’s mir recht, ich hatte keine Lust auf oberflächliche Gespräche, als wäre zwischen Tanja und mir nie etwas geschehen, nicht das, was zu meiner Verbannung geführt, und nicht das, womit sie mich verraten hatte. Andererseits nahm sie mir damit die Möglichkeit, ihr meine bodenlose Verachtung zu zeigen. Ich hielt mich an Alezja, nahm sie zu meinen Spaziergängen mit, erzählte ihr vom Internatsleben, ich weiß nicht, ob sie überhaupt zugehört hat. Allmählich paßte nichts mehr in sie hinein, kein Essen, keine Worte.

Allabendlich öffnete uns Vater zwei Bier, eines stellte er vor mir auf den Tisch, manchmal setzte er sich neben mich und schwieg, manchmal prostete er mir nur zu und ging allein in den Garten, trotz der Kälte. Am Weihnachtsabend begann ich, mich doch über seine stumme Anhänglichkeit zu wundern.

»Irgendwas ist faul«, sagte Alezja.

»Was meinst du?«

»Die Miliz war hier. Und Kolja spricht nicht mehr mit Onkel Janka.«

»Vater spricht mit überhaupt niemandem.«

»Nicht einmal mehr mit Onkel Janka.«

»Nicht einmal mehr mit Onkel Janka. Ja, dann ist es wirklich schlimm. Was denkst du, müssen wir uns Sorgen machen?«

Alezja überlegte. Dann fragte sie: »Vermißt du mich?«

»Weiß nicht. Vermißt du mich?«

»Weiß nicht.«

Sie seufzte.

»Ich mach mir keine Sorgen mehr. Ich hab’s satt. Irgendwas muß anders werden. Ich hab alles so scheißsatt.«

Sie hatte recht: Sie war der lebende Beweis fürs Satthaben. Noch bevor Tanja zurückkam, saß ich schon wieder im Zug nach Minsk. Ich war erleichtert, von Vater und Großmama wegzukommen, war froh, unsere Viererbande wieder vereint zu sehen.

Die größte Neuigkeit im Internat: Es gab keine Briefe mehr an Freunde aus sozialistischen Bruderstaaten. Es gab nämlich keine sozialistischen Bruderstaaten mehr. Nur zur Sicherheit wurde noch jeden Morgen die Flagge mit Hammer und Sichel gehißt. Aber die Nationalhymne war kaum mehr als ein tiefer Brummton, und einige von uns sangen bereits das alte Lied: »Njachaj zhywje mahutny, smjely nasch bjelaruski wolny duch – Daß unser freier belarussischer Geist stark und unerschrocken lebe!«

Attestat srelosti, die Feier des Schulabschlusses stand noch bevor. Wir stießen schon lange im Vorfeld auf unsere baldige Freiheit mit billigem Schampanskaje an. Nur Sascha wollte nach Moskau, Trafim und Sjarhej blieben in Minsk. Sie forderten mich auf, mit ihnen zusammen das Studium aufzunehmen, mit oder ohne Militärdienst dazwischen. Sie malten sich, sie malten mir, wir malten uns den Riesenspaß aus, den wir haben würden. Wir träfen uns zu einem Gabelfrühstück bereits um 12 Uhr in der Mensa, nur Trafim wäre schon seit Stunden wach, hätte drei Veranstaltungen besucht und zwei Bücher zu Ende gelesen, Sjarhej dagegen würde, wie ich, direkt dem Bett entstiegen sein. Natürlich nicht dem eigenen.

Wir brachen in einem jungen Staat in ein neues Leben auf. Vorbei mit der Tyrannei! Wir tranken uns, tranken einander in die Freiheit, eine Woche vor der Entlassung aus dem Internat, eines dieser geduldeten Besäufnisse auf dem Fußballplatz, die Abgänger wurden von den Frischlingen umsorgt, die auch dafür zuständig waren, die Besoffenen in ihre Zimmer zurückzubringen. Bei uns waren unzählige Flaschen Wodka, aber Sjarhej hatte ein tolles Tempo vorgelegt und das Gros bereits vernichtet. Irgendwie mußten Trafim und ich versuchen, ihn ins Bett zu bringen, bevor die Alkoholstarre einträte. Auch für mich war es längst Zeit, ein Wodka mehr und ich würde nicht mehr in der Horizontalen liegen können, ohne daß es mir unablässig den Magen umdrehte.

Sjarhej glich einem widerspenstigen Maultier. Er wollte sich nicht helfen lassen beim Gehen, von Gehen konnte für ihn überhaupt noch nicht die Rede sein.

»Das ist doch Scheiße, jetzt schon ins Bett zu gehen, ich will noch nicht sterben.«

»Red keinen Blödsinn, Sjarozha, außer uns ist doch schon fast keiner mehr da.«

»Ich will noch nicht sterben.«

»Keiner stirbt.«

»Scheiße«, er riß sich los, »von wegen, da rollt ein Teil des Andromedanebels auf uns zu.«

Pause, wir bekamen ihn wieder zu fassen.

»Mit 500 Kilometern in der Stunde. Oder in der Sekunde. Das habe ich vergessen.«

Pause.

»Das wird eine Scheißexplosion geben! Alles Scheißleben wird erlöschen. Wir werden alle sterben!«

Pause.

»In fünf Milliarden Jahren.«

»Bitter«, sagte Trafim und hielt Sjarhej eine Wodkaflasche vor, »aber Zeit, einen davor zu nehmen, haben wir noch, oder?«

»Sicher.«

Es war, als hätte man dem Maultier eine Karotte vorgehalten, Sjarhej ließ sich von der Flasche ziehen. Er trank wieder.

»Aber schade ist das trotzdem«, endete er seinen Gedanken, kaum hatte er den Wodka abgesetzt. Dann sah er mich an, zog mein Gesicht ganz nah an seines, ich konnte den Fusel- und Salzgurkenatem riechen, er drückte mir einen Schmatz auf die linke, auf die rechte Wange, dann grinste er und sagte mit versagender Stimme:

»Jetzt hab ich die Wette doch gewonnen.«