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»Aaaah, das brennt wie Feuer.« Ich krümmte mich so effektvoll, daß mir Großmama einen heiligen Blick zufunkelte, und Alezja, die ein wildes Gelächter angestimmt hatte, verpaßte sie eine Ohrfeige, bevor sie sie aus dem Zimmer jagte. Ich hörte sie draußen weiterlachen. In den darauffolgenden Wochen sorgte Großmama dafür, daß Marya niemals allein mit Alezja oder mir das Zimmer teilte.

Großmama und ich mieden einander. Sie mich wie den Hort einer infektiösen Haut-, ich sie wie den einer infektiösen Hirnkrankheit. Großmama war hart geworden, eine strenge alte Frau, die nichts preisgab, schon gar nicht mir, Großpapas Liebling. Nach der Geburt von Marya hatte ihre Nierentuberkulose begonnen, wenig darauf entwickelte sie einen fanatischen Katholizismus, sprach davon, daß ihre Krankheit eine Strafe Gottes dafür war, daß sie in ihrem Alter noch ein Kind bekommen hatte. Ich dachte, vielleicht liege es an der fehlenden Niere, eine Harn-, eine Hirn-, eine Harnhirnvergiftung. Und hoffte, mit besserer medizinischer Grundversorgung würden sich auch diese Anfälle religiöser Demenz wieder geben.

Einstweilen mußte ich versuchen, es mit dieser Betschwester, meinem Petrus und zwei Toten in unserem Haus aufzunehmen. Als ich nachts nicht einschlafen konnte und beschloß, mir eine Milch in der Küche warm zu machen, rumpelte ich auf dem Weg zwischen Kühlschrank und Herd ein ums andere Mal gegen Vaters Leichnam. Er fühlte sich merkwürdig weich an. Auf seinem Gesicht lag eine Friedfertigkeit, die ich nicht an ihm gekannt hatte. Nur Mutters Züge waren verzerrt, die Längsfalten um ihren Mund gaben ihr das Aussehen einer Greisin, sie waren so tief, diese Falten, tief und doch gefüllt mit Vorwürfen. Ich nahm ein Geschirrtuch und legte es ihr aufs Gesicht. Die Milch kochte über, ich fluchte leise, das Gefühl, beobachtet zu werden ließ mich aufblicken.

Ich sah Tanja in der Tür stehen, mit offenem Haar. Sie trug ein pfirsichfarbenes Nachthemd, kratzte sich abwechselnd mit der rechten Hand am linken Arm und mit dem linken Fuß am rechten Bein.

»Hey«, sagte sie.

»Hey.«

»Ich hab Geräusche gehört, ich dachte, die Mamuschka würde beten. Die erste Nacht hat sie kniend vor den Toten verbracht.«

Ich nickte.

»Angenehmer Zeitvertreib.«

»Was tust du?« fragte Tanja und kam zögerlich näher. »Wonach sieht’s aus?«

»Nach Abschiednehmen.«

»Mit einer Tasse warmer Milch in der Hand? Klar. Soll ich mich auch hinknien? Ich könnte die Milch auf dem Kopf balancieren wie Vater seine Bierflaschen.«

»Und was soll das Geschirrtuch?«

»Gekleckert.«

Tanjas Wangenmuskeln mahlten.

»Nimm es weg, das regt die Mamuschka nur auf.«

Ich zog es, Millimeter für Millimeter zunächst, dann mit einem Ruck von Mutters Nase.

»Mist, wieder kein Kaninchen.«

Tanja schien wirklich zu trauern. Ich wußte nicht, ob um ihren Bruder oder um mich. Doch sie spürte, daß sich mein Bedarf nach Aussprache in Grenzen hielt. Zögerlich sagte sie:

»Wasja…?«

Ich hielt ihr auffordernd die Tasse mit der Milch hin. Sie schüttelte den Kopf.

»Nein… es ist nur… das da ist dein Vater, da, auf dem Tisch. Und das deine Mutter.«

»Da sagst du was! Eine gewisse Familienähnlichkeit…«

Ich blieb allein mit meiner erkaltenden Milch, auf der sich eine Haut zu bilden begann.

Ich hasse Milchhaut.

Den Tag verschlief ich. Abends bemühte ich mich, rasch aus dem Haus zu kommen. Die Beerdigung war auf den nächsten Morgen angesetzt, ein wenig Zeit würde ich hier also noch verbringen müssen, dann läge es an mir, meine neugewonnene Freiheit zu nutzen. Es gab niemanden mehr, der mir Vorschriften machen konnte. Niemand würde mich noch einmal, über meinen Kopf hinweg, irgendwo hinschicken.

Pläne? Nein, Pläne hatte ich keine. Nur vage Ideen. Die Zeit meiner Viererbande im Internat schien mit einem Mal weit weg. Kein Studium in Minsk. Das wußte ich. Mehr wußte ich nicht.

Einstweilen spekulierte ich auf Vaters Geldversteck im Keller, das die Polizei übersehen hatte. Oder übersehen wollte. Alezja war sich sicher, daß Vater sich umgebracht hatte, weil seine Geschäfte aufzufliegen drohten. Offenbar handelte es sich nicht nur um die Perestrojka, die ihm diese Devisen eingetragen hatte. Der Ikonenschmuggel mit dem Westen florierte, die Deutschen waren verrückt nach allem, was auch nur andeutungsweise nach Heiliger Familie aussah (auch wenn die meisten Bilder wohl Fälschungen waren und das einzig alte an ihnen das wurmstichige Holz war, auf das man sie gemalt hatte). Hätte Großmama davon Wind bekommen, das Verdikt wäre gesprochen, der Scheiterhaufen für ihren Ältesten längst entfacht. Sicher war sie ahnungslos, ähnlich ahnungslos wie Mutter.

»Von wegen«, lachte Alezja. Es war ein Lachen, das Empörung war, eines, das sich nicht anders zu entladen wußte. Erst im Beben der Nüstern, im Hochziehen der Augenbrauen sah, hörte, bemerkte ich, was dahinter verborgen lag. Wir lungerten am Polentümpel, der Abend war weit vorgeschritten, ich sah ihr dabei zu, wie sie eine Zigarette nach der anderen rauchte – »hilft sensationell beim Abnehmen« –, und sie mir, wie ich einen Stein nach dem anderen auf der Wasseroberfläche tanzen ließ.

»Von wegen! Kaum hatte die Mamuschka im Internat angerufen, da kam auch schon Onkel Janka. Stundenlang haben sie den Keller durchstöbert. Danach war alles leer.«

Ich überlegte.

»Wahrscheinlich wollten sie die Kohle vor der Miliz verstecken.«

Alezja lachte lauter, explosionsartig.

»Ja natürlich. Vor der Miliz.«

Sie schnippte ihre letzte Zigarette in den Tümpel, dann stand sie auf, tippte mir mit dem Zeigefinger liebevoll gegen die Stirn, und sagte:

»Oder vor dir, mein Trottelchen.«

Alezja ging. Der Tag der Beerdigung kam. Es war windig geworden, südliche Böen, die Krawatten flatterten und die Röcke, der Priester hatte Mühe, seine Worte vor der Brise zu bergen, und, wenn ich recht verstand, entblödete er sich nicht, »Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt« zum Motto der Grablege zu wählen.

Stanislaus Haar war so wenig militärisch kurz wie meines. Als wir die Leichen begossen, fiel es ihm wirr ins Gesicht, von Zeit zu Zeit strich er sich eine Strähne hinter die Ohren. Wir sprachen über Minsk, wohin er zum Studium ging, was bedeutet hatte, an der rechten Stelle die rechte Summe springen zu lassen. In der Hauptstadt zu studieren war ein Privileg, das nur Eliten zukam, Geisteseliten und Geldeliten.

Stanislau war elektrisiert, es schien, als hätte er jetzt, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die Rechnung mit den alten Machthabern beglichen. Nicht für sich. Aber für Jadwiha. Und könne und wolle nun neu beginnen. Politische Historie schwebte ihm vor, aber er konnte sich auch vorstellen, Belorussistik zu studieren. Oder Erwachsenenpädagogik. Oder am besten alles durcheinander.

»Frag nicht, was dein Land für dich tun kann, frag, was du für dein Land tun kannst«, zitierte er. Es klang wie der Spruch einer Werbung für Erfrischungsgetränke.

Die Sowjetunion war endgültig von den Landkarten verschwunden. Große Ereignisse werfen ihre Schatten meist hinterher. Dann heißt es, rechtzeitig zur Seite springen.

Man nannte es wieder Belarus. Unser Land war unabhängig geworden. Manche behaupteten sogar, es sei jetzt »frei«, aber das war nur der übliche Irrtum des Sowjetmenschen, der das Wort Freiheit traditionell mit weniger Übung buchstabiert als die Worte Mutter, Liebe oder Schnaps, und schlicht nicht versteht, daß wir nur die kommunistische mit der kapitalistischen Knute vertauschen sollten. Früher krochen wir den Sowjets, heute kriechen wir dem lieben Geld in den Arsch, hätte Großpapa gesagt.

»Keine Russen mehr, endlich sind wir unseren großen Bruder los«, jubelte Stanislau.

Ich blieb skeptisch. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß wir mit dieser Unabhängigkeit etwas anfangen konnten. Zumal es andersrum war: Der große Bruder hatte sich uns vom Leib geschafft. Aus dem gemeinsamen Haus hatte er uns geworfen, bei klirrender Kälte, und dabei mit ganz unschuldigem Gesicht erklärt, wir dürften jetzt auf eigenen Beinen stehen, und zu eigenen Beinen paßten frische Luft und ein Wanderstab eben besser als ein riesengroßes Haus mit wohlig warmem Herd.