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Kartoffelzucker

Treppab, treppab, treppab.

Unten sind sie damit beschäftigt, den massigen Körper anzuwuchten. Zu dritt. Rasou, der Fleischer, faßt unter den Schultern an. Vater und Onkel Janka greifen nach je einem Bein. Es riecht nach Aprikosenschnaps.

»Jetzt!« heißt das Kommando, und alle heben an. Der Leib sackt in der Mitte zusammen, sie bekommen ihn nicht vom Kellerboden hoch. Die Träger straucheln, taumeln aufeinander zu, sechs pralle Fäuste, dreißig weiße Fingerkrallen. Stürzend reißt der Schwächste eine Naht entzwei, raaatsch, durch den Bund schiebt sich fleckige Unterwäsche. Es riecht nach Salmiak. Es riecht nach wilder Minze. Das Bein rutscht Vater aus der Hand, klatscht auf den Stein, etwas kracht und geht entzwei, ein Pantoffel schlurft über den Boden, Großpapa ist tot.

Dieselben Bilder. Immer dieselben Bilder. Begleitet von einem monotonen Sirren. Aber es ist nicht das Motorengeräusch eines Filmprojektors, obwohl es derselbe Laut ist. Es ist die ostdeutsche Gefriertruhe, die sich Großmama vom Mund abgespart hat. Die im Kellerhintergrund steht. Dort, wo sie ein Stromkabel durch das Fenster gezogen haben.

Immer dieselben Bilder, wenn ich die Augen schließe. Wenn ich die Augen schließe, ist Großpapa tot. Er ist die Kellertreppe hinabgestürzt. Er wollte zu seinem Schnapsversteck. Vater hat im Keller ein Geldversteck. Großpapa ein Schnapsversteck. Aprikose, Pflaume, Wodka. Die leere Flasche Aprikosenschnaps, die er mit hinunternehmen wollte, liegt oben auf dem Treppenabsatz. Unzerbrochen. Großpapa liegt auch auf dem Treppenabsatz. Unten.

Großpapa war krank. Leberzirrhose. Dazu Rückenmarkentzündung. Außerdem war er Epileptiker. Er wollte längst nicht mehr. Gemußt hat er auch nicht mehr. Mit seinen achtzig Jahren.

Mit seinen achtzig Jahren liegt der Epileptiker vor der Kellertreppe. Sein Leiden: die Blutschmiere in seinem Bart.

Alezja entdeckt ihn als erste, von oben. Sie ruft. Nach dem Vater. Dann ruft Vater. Alle laufen sie zusammen, Onkel Janka, der mit Vater schon am frühen Morgen einen neuen Schacher vorbereitet, Rasou, der auf ein Schwätzchen mit Großpapa gekommen ist, und ich. Alezja schicken sie weg, mit mir versuchen sie es auch, aber vergeblich. Ich bin vierzehn Jahre alt. Ein Mann. Ich gehe mit ihnen die Treppe hinab und sehe den blutigen Schaum. Großpapas Gesicht sehe ich nicht. Er liegt darauf. Motorensirren. Es riecht nach Salmiak. Nach wilder Minze. Nach Eisen.

Ich weiß: Großpapa muß gewaschen werden. Dieselben Bilder, derselbe Film.

Wenn sie ihn die Stiegen hinaufgeschafft und auf sein Bett gezerrt haben, wird Onkel Janka seine Jacke durchstöbern, er wird einen Flachmann darin finden, sich wundern, was der Alte wohl im Keller suchte, wenn er noch ein Fläschchen bei sich hatte, er wird es herausbefördern und sagen:

»Das letzte Hemd hat keine Taschen!«

Dann wird er es aufschrauben, einen Schluck tun, es in die Runde reichen, das Gesicht nachschmeckend verziehen, und sich selbst antworten:

»Na, was soll’s?!« Es wird nach Aprikosenschnaps riechen. Vater wird mich zur Großmama schicken.

Die arbeitet schon wieder. Keine zwei Wochen ist es her, daß sie entbunden hat. Aber Marya, die Kleine, ist Großmamas viertes Kind, das sei nur eine Frage der Routine. Milch hat sie ohnehin keine mehr. Sie kann längst wieder arbeiten. Nur die angehende Nierentuberkulose macht ihr zu schaffen.

Großmama arbeitet im Gemischtwarenladen. Ich kann Kaslou, den Leiter, nicht ausstehen, deshalb besuche ich sie selten, selbst wenn es dann Süßigkeiten gäbe. Tatsiana und Alezja sind ständig da. Ich habe sie darauf eingeschworen, die abgestaubte Besucherschokolade mit mir zu teilen, was besonders Alezja schwer fällt. Dabei muß sie auf ihre Pickel achten. Fett wird sie allmählich auch, und die Jungs aus meiner Klasse fangen an, sie und mich, ihren Neffen, zu hänseln. Sie ist die einzige Zwölfjährige, die noch keinen Freund hat. Trotzdem kann es nicht genug Schokolade sein, sie beginnt mit einem Stück, ißt sofort einen Riegel hinterher und anschließend verputzt sie die ganze Tafel. Es ist mehr als essen. Sie mästet sich. Sie stopft sich, verspundet sich. Seit sie entdeckt hat, daß sie tagelang bluten kann. Oder vielleicht ist es auch wegen Großpapa.

Bei meinem Eintritt in den Laden weiß Großmama, daß etwas geschehen sein muß. Mit ihren fünfundvierzig Jahren ist sie eine alte Frau für uns. Und wie eine alte Frau lugt sie, mit schiefgehaltenem Kopf, über die Theke. Es ist Alezja, die auf sie zutritt und laut verkündet:

»Mamuschka, der Papa ist gestürzt.«

Und mit unverhohlener Wehleidigkeit in der Stimme sagt sie noch:

»Kann ich Kartoffelzucker haben?«

Wortlos bindet sich Großmama die Schürze auf, blickt auf mich, ich sehe weg. Wortlos wendet sie sich Kaslou zu, der den Auftritt von Anfang an hinter seinen akkurat geschichteten Stapeln Konservenbüchsen verfolgt hat. Er nickt. Beiläufig. Sie schiebt uns der Tür entgegen, aber noch bevor wir aus dem Laden sind, hebt er Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand und ruft:

»Zwei Stunden! Zwei!«

Als ob er mit seinen fünfzehn Kundinnen am Tag nicht imstande wäre, den Tante-Natascha-Laden allein zu schmeißen.

Draußen steht die Sonne schon hoch. Wir müßten längst in der Schule sein. Großmama erinnert uns daran, aber zu ihrem Ärger erklären wir uns für schulunfähig. Eine halbe Stunde gesteht sie uns zu. Die Entschuldigung für eine halbe Stunde. Weniger Zeit als sie selbst hat.

Jetzt, da Tatsiana vorantrabt Richtung Schule, Alezja sich einen letzten Rest Kartoffelzucker in den Ranzen steckt, für den Rückweg, beginnt etwas Besitz von mir zu ergreifen. Großpapa sagte immer: »Kommst du über den Hund, dann kommst du auch über den Schwanz.« Ich habe nie verstanden, was das heißt, und das lag nicht daran, daß er es auf Ungarisch gesagt hat. Ich habe vielmehr nie verstanden, was er damit gemeint haben könnte. Er wahrscheinlich auch nicht. Aber darum geht es nicht, darum ging es nie. Es geht um Großpapa. Den ich von jetzt an suchen müßte. Den ich doch immer nur gefunden hatte. Den ich nie wieder aus dem Kellerversteck von Rasou nach Hause holen würde und dafür Kalbasa zugesteckt bekäme von der Rasowa, die mich als »Mein Engelchen« begrüßte, weil durch mich die trinkerische Zusammenkunft rasch, heiter, und vor allem ohne ihr Zutun aufzulösen war.

»Geh deine Wurst holen!« sagte die Großmama, und Rasou, der Fleischer, sagte:

»Der kleine Polizeimann! Gell, du führst uns nicht beide ab? In der Ausnüchterungszelle ist’s so hundstrocken!« Dann schenkten sie einander den Letzten ein, sprachen sich ein »Trink, und laß es nicht wiederkommen!« zu, ergaben sich den besten Schauern der Aprikose, ich mußte Großpapa aufhelfen, weil die Entzündung im Rücken ihn steif und immer steifer werden ließ, und schmatzend und lachend verdrückten wir die erste Wurst zusammen auf dem Nachhauseweg. Denn das, schwatzte Großpapa, sei der Sozialismus, der wahre Sozialismus, nicht der abgeschmackte, der Aftersozialismus, den sie von Stalin gelernt hätten: Nicht einsam trinken, gemeinsam trinken, nicht einsam essen, gemeinsam essen.

Ich hatte ihn doch immer nur gefunden, wo sollte ich ihn jetzt suchen?

Und, mit leisem letzten Zögern, beschließe ich, lieber gleich etwas von all der Sonne abzuarbeiten, die diesen Sommer noch vor mir liegt. Diesen Sommer ohne den Alten.

Ich glaube nicht, daß meine Tantchen bemerken, daß ich nicht mehr bei ihnen bin. Außer Stanislau wird es auch in der Schule niemand bemerken. Nicht einmal die Lehrer.

Ich sei kein bemerkenswerter Schüler, sagen sie, für meine vierzehn Jahre nicht besonders aufsässig, nicht besonders talentiert. Was mich zwar nicht vor dem Pionieralltag, wohl aber vor den Komsomolzen bewahrt hat, die keine Anstalten mehr machen, mich unter ihre Fahne zu ziehen.