Stanislau gab mir die Hand, noch immer mehr vom Feuer des Neubeginns als von dem des Wodkas durchwärmt, er gab mir die Hand und sagte:
»Wir sehen uns ins Minsk.«
»Vielleicht.«
»Ganz bestimmt.«
»Früher oder später.«
»Ganz bestimmt.«
Ich konnte nicht schlafen, obwohl die Eltern jetzt aus dem Haus waren, obwohl ich nicht mehr um sie herumtanzen mußte in der Küche, und diese nächtliche Begegnung mit Tanja sicher keine weitere nach sich ziehen würde. Ich weiß nicht, was in diesen Tagen alles Besitz von meinem Hirn ergreifen wollte, es war, als hätte man mich eingesperrt in einem Elektronen-Beschleuniger, der ungeheure Energiesummen durch meinen Körper schickte. Ich zog mich noch einmal an und ging hinaus. Der Wind hatte nachgelassen, aber es war noch immer warm. Kein Stern am Himmel. Vor seinem Haus traf ich Rasou. Noch einmal schüttelte er mir die Hand, indem er seine beiden Riesenpratzen um sie legte, daß sie ganz in ihnen verschwand, so als hätte er sie nicht heute Nachmittag schon in sich aufgenommen, in diese rissige grobe Haut, an der hier und da Blutschorf zu spüren war. Dann bat er mich, ihm noch ein bißchen Gesellschaft zu leisten. Auf eine halbe Stunde kam ich mit in sein Kellerversteck, hockte dort, wo Großpapa gehockt hatte, trank, was der Alte mit ihm getrunken hatte, wenn auch in weniger hastigen Schlucken. Rasou erzählte mir die alten Geschichten, die ihm (und mir) schon der Großpapa erzählt hatte, und von denen er gar nicht genug kriegen konnte. Er war ein Fleischer, der die Worte liebte. Zum Abschied gab er mir eine Flasche Selbstgebrannten und einen Spruch von Großpapa auf den Weg: »Berge von unten, Bordelle von innen, Kirchen von außen.«
Die Flasche war halbleer, als ich auf dem Schlittenhügel ankam. Ich hatte Mühe zu stehen. Ich hatte Mühe zu sehen. »Fünf Finger sehe ich, gell?, einen, zwei, drei, vier, fünf«, Rasou hatte mir bewiesen, daß es sich nicht um Methylalkohol handelte. Ich war beruhigt. Und beruhigt mußte ich eingeschlafen sein. Als der Mond unterging, wurde ich wach. Der Selbstgebrannte war umgefallen, sein Inhalt über mein rechtes Hosenbein geflossen, es fühlte sich kalt an. Ich trank die Neige, warf die Flasche den Hügel hinab, dorthin, wo unsere Schlitten immer zum Stehen gekommen waren.
Dann sah ich Großpapa.
Er kam den Weg vom Städtchen herauf, am Friedhof vorbei. Die Entzündung war noch immer nicht besser geworden, er ging gebeugt, mit einer Hand stützte er seinen Rücken. Kurz vor der Hügelkuppe blieb er stehen und nickte mir zu, ich roch den Aprikosenschnaps, einen Hauch von Salmiak. Beide sahen wir hinab aufs Land.
»Wo warst du die ganze Zeit?« fragte ich schließlich.
»Wo warst du denn?«
»In Minsk.«
»In Minsk, oho.«
»Sie haben mich ins Internat gesteckt.«
»Hmhm.«
»Sie haben mich loswerden wollen. Und jetzt haben sie mich los.«
»Ich glaube, jetzt hast du sie los.«
»Wie meinst du das?«
»Sag, würdest du mir einen Gefallen tun?«
Es war dunkler geworden während unserer Unterhaltung.
Beide blickten wir noch immer in die Ferne, ohne einander anzusehen. Ich zuckte mit den Schultern.
»Dann tu ich dir auch einen Gefallen.«
»Was ist es?«
»Ich möchte noch einmal Budapest sehen. Ich möchte zu den alten Plätzen. Nach Ferencváros. Auf die Burg, wo die Panzer standen. Nimmst du mich mit nach Budapest?«
Ich stöhnte auf.
»Budapest ist weit. Und in Ungarn ist jetzt der Kapitalismus.«
»Ja, das hatte ich befürchtet.«
Wir schwiegen.
»Aber um das Geld mußt du dir keine Sorgen machen. Dein Vater war ein Hamsterer.«
»Den Keller haben Großmama und Onkel Janka schon klar gemacht.«
»Wer redet denn vom Keller?«
Ich hob meinen Kopf in seine Richtung und glaubte, ihn lächeln zu sehen.
»Wer redet vom Keller, Kleiner?!«
Ich entdeckte Vaters Legat in der Garage, in Großpapas alter Werkstatt, versteckt in einem ausgebeinten Elektromotor. Seit dem Tod des Alten hatte hier niemand aufgeräumt, niemand den Verschlag betreten. Ich fand eine so große Summe Devisen, daß ich, für diesmal, nicht nur eine Augenbraue hob. Dann lag da noch ein Zettel, auf den Vater in großen Druckbuchstaben geschrieben hatte.
Mach was aus deinem Leben. Am besten hau ab von hier.
Ich weiß nicht, ob das mir galt, oder jedem, der diesen Schatz hätte heben können. Ich weiß nicht, ob Vater damit rechnete, daß ich es wäre, der die Werkstatt des Alten eines Tages ausräumen würde, und daß er mir auf diese Weise ein einziges Mal im Leben etwas Gutes tun wollte, nicht einfach nur etwas antun, sondern etwas Gutes tun.
Überzeugt war ich davon keineswegs.
Ich spürte, wie der Elektronen-Beschleuniger seine Arbeit wieder aufnahm. Ich mußte mich fassen, ich mußte die Ereignisse dieser Nacht in einen halbwegs logischen Zusammenhang bringen. Der Selbstgebrannte. Der Schlittenhügel. Der Deutschmarkmotor. Ich bekam so starke Kopfschmerzen, daß ich Blitze vor meinen Augen tanzen sah. Ich rettete mich hinüber ins Haus, barg die Banknoten in meinem Rucksack, ich schlief nicht, ich übergab mich in meinen alten Kindernachttopf, ein um das andere Mal, kämpfte stöhnend gegen die Schmerzen. Und als sie endlich nachließen, schlief ich noch immer nicht, ich tauchte, tauchte immer tiefer, tiefer und tiefer, ich konnte nicht atmen, ich mußte meine Tauchermaske vergessen haben und mein Atemgerät, der Druck auf die Schläfen war unerträglich, ich tauchte und tauchte und tauchte, ohne zu atmen, und dann sah ich eine Höhle vor mir, einen Karstgang, das Wasser wurde wärmer, und ich schwamm hinein.
Ich war siebzehn Jahre alt. Ich war frei. Und das Land meiner Geburt hatte aufgehört zu existieren.
Der Fliegenfänger von Budapest
Zweierlei stand vor der Ausreise nach Ungarn auf meiner Liste:
1. Musterung
2. Aufenthaltsgenehmigung
Item:
Die Zeiten waren danach, das Militär mußte sich eine neue Ordnung geben, ich fiel durchs Raster. »Herzschwäche« stand auf dem in allen vier Ecken gestempelten Blatt. Ich hatte die Devisen. Noch nie bekam einer so schnell einen Ausmusterungsbescheid.
Item:
»Jetzt wird hier endlich unsere Sprache gesprochen«, sagte der Typ auf dem Paßamt in einem anbiedernd klingenden Weißrussisch, das den Befehlston, der noch gestern hier geherrscht hatte, kaum verbarg.
»Und da kommen Sie daher, ein junger Mensch, und wollen weg. Sie können doch nicht einfach weggehen von hier, ausgerechnet jetzt, das junge Land braucht junge Leute wie Sie.«
Als er ein wenig zur Seite rückte, sah ich, daß das obligatorische Bild mit dem Konterfei des Staatspräsidenten hinter ihm leer war. Kein Gorbatschow, kein gar nichts. Sie trauten dem Braten noch nicht.
Ich hatte keine Lust auf die unerwartete Komplizenschaft mit einem Uniformierten vom OWIR, der Registrierungsbehörde, und wechselte ins Russische.
»Ich höre immer ›jung‹. Ich dachte, die Leier von der sozialistischen Jugend sei abgespielt. Ich kann gar nicht sagen, wie alt ich mich fühle. Hier, fassen Sie mal meinen Arm an, fühlt sich das etwa an wie ein junger Arm? Ein Tschernobyl-Arm ist das, ein beschissener verstrahlter Tschernobyl-Arm. Und ich bin auch kein Hiesiger, nein, ich bin eigentlich ganz und gar nicht von hier.«