»Soso? Ab nach Moskau? Fahnenflucht, was?«
»Moskau…! Der große Bruder kann mich mitsamt meinen übrigen Verwandten gern haben! Ab nach Ungarn, ein Nomadenreiter, das ist, was ich bin. Ich will in den Süden, dorthin, wo es warm ist, wo Flüsse fließen, und nicht strahlen und verklumpen.«
Dann verlangte ich, einen jüngeren Kollegen zu sprechen. Ich hatte einen Kontaktmann. Ich hatte die Devisen. Noch nie bekam einer so schnell einen Ausreisestempel in seinen Paß.
Als der Zug einfuhr, drückte mir Alezja einen festen Kuß, der nach Zigaretten schmeckte, auf den Mund und verlangte, ich solle ihr etwas Schönes aus Bukarest mitbringen. Sollte ich es bis Bukarest schaffen, beschloß ich, ihr etwas mitzubringen, schließlich hatte sie mich schon zum zweiten Mal in einen neuen Lebensabschnitt verabschiedet, während meine Restfamilie nur sprach- und fassungslos meinem Treiben zusah.
Ich kehrte zurück zu Großpapa, in Großpapas Land. Wie meine Landsleute: Alle kehrten wir zurück zu unseren Großvätern. Nur daß die anderen Belarussen das Land nie verließen, es kam einfach zu ihnen. Es kam über sie. Und die meisten hatten es nicht einmal gewollt.
Jede Minute meiner Zugfahrt genoß ich, selbst den stundenlangen Aufenthalt in den Umspurhallen des Brester Bahnhofs, das Rangieren zwischen Sonne und funzeliger Hallenbeleuchtung, um den Zug zu »verwestlichen«, zumindest in seiner Spurweite. Ich kaufte selbstgemachte Bliny von fliegenden Händlerinnen. Die schrillen Schläge, die das Hämmern von Stahl auf Stahl erzeugte: Sie wurden zur Fanfare für meinen Aufbruch. Zum ersten Mal in meinem Leben verließ ich mein Land. Vielleicht wäre es das erste und letzte Mal, darüber hatte ich mir wenig Gedanken gemacht.
Kopfüber fiel ich. In die neue Stadt. Ich wußte nicht einmal, wo ich in Budapest übernachten würde. Im Zweifelsfall in einem feinen Hotel. Das Geld dafür hatte ich.
Als ich die ungarische Hauptstadt erreichte, war es tiefe Nacht. Als ich sie wieder verließ, war es tiefe Nacht. Zwischen jener Nacht und dieser lagen tausendundeine Nacht. Tausendundeine Nacht in meinem neuen Reich.
Rasch bezog ich Quartier nahe der Burg von Buda. Und scheute es, hinunter nach Pest zu gehen. Ich mochte Pest und sein Gewimmel nicht, und ich fluchte dem Tag, da man beschlossen hatte, es zum staubigen Mittelpunkt zu machen. Wenn er gewollt hätte, daß aus Buda und Pest eine Stadt wird, hätte Gott nicht die Donau erschaffen.
Mein Reich: ein ausgebautes Dachgeschoß. Ausgebaut und den vermeintlichen Marktgesetzen angepaßt. In den Raumabschnitt, der sich Küche schimpfte und der mir die meisten Kopfblessuren einbrachte, weil er Anteil an der tiefsten Dachschräge besaß, wurde, genau in seine Mitte, eine kleine Dusche gesetzt; oder, um es den Marktgesetzen angepaßt auszudrücken: eine Naßzelle, die nach dreiviertelstündigem Vorheizen exakt vier Minuten warmes Wasser ausspuckte. Im Vergleich zu den Gemeinschaftsduschen im Internat dennoch eine Wohltat. Auch wenn die Ventile klemmten, die Türen sich nicht schließen ließen und Wasser austrat, das sich in den Ritzen der alten Dielenbretter sammelte und sie modrig muffeln ließ.
Über die Küchenausstattung läßt sich wenig sagen. Es gab keine. Ein Kontinuum aus sozialistischen Zeiten. Auf einem Flohmarkt erstand ich eine Herdplatte, die mir tiefe Einblicke in die Natur fließenden Stroms gewährte, Einblicke, die mir einmal zugute kommen würden. Aus der Universitätscafeteria borgte ich mir Besteck, von einer Autobahnraststätte Tassen. Meine Teller waren aus Familienbesitz. Deshalb hatte ich auch nur zwei.
Den Marktgesetzen angepaßt: eine Toilette, einen halben Stock tiefer, deren Spülwasserbecken winters zufror, sommers ein fabelhaftes Insektenreich ausbrütete. Ich bin mir sicher, mit einem Bestimmungsbuch in der Hand hätte ich eine Fliegenart gefunden, die fortan meinen Namen tragen würde.
Den Marktgesetzen angepaßt: Der eigentliche Raum, der Dachspeicher, war im Rohzustand erhalten. Unter Kádár hatte man hier noch Wäsche aufgehängt. Kurz nachdem der gestorben war, so erzählte mir der Hausverwalter, der alte Szabó, mein erster ungarischer Trinkkumpan, entschloß sich einer der Mieter, sich selbst dort hinzuhängen, am Mittelbalken. Der einzig wirklich hohen Stelle, er hätte sonst ein Zwerg sein müssen, um seinem Leben ein Ende und dem Ende des Sozialismus ein Mahnmal zu setzen. Gefunden hatte ihn Szabó, nicht einmal kalt sei er gewesen. Das garantiere mir, daß er nicht umgehe, meinte der Alte und berief sich dabei auf mir ganz und gar unbekannte religiöse Informationsquellen. Kam ich spät nach Hause, näherte ich mich mit einer unbestimmten Scheu diesem Mittelbalken, den sie braun angestrichen hatten, wie auch das übrige wirre Balkensystem, das meine über den Speicher verteilte Wäsche trug. Auf Nachfrage bestätigte Szabó, daß der Erhängte keine Erektion gehabt habe, und obwohl er, Szabó, 1944, 1947 und 1956 schon so manchen Erhängten gesehen hatte, habe noch keiner von ihnen eine Erektion gehabt. Er halte das überhaupt für ein Ammenmärchen. Als ich fragte, ob die Eregierenden mit größerer Wahrscheinlichkeit umgingen, blies er den Rauch seiner parfümierten deutschen Billigzigarre von sich, schüttelte den Kopf und murmelte:
»Nee, da hat keiner mehr seinen Schwanz hochgetan, keiner, keiner, keiner!«
Schatten bewegten sich mit dem Wind, der durch die Ritzen wie über Orgelpfeifen fuhr. Nächtelang spielte er mir seine Toccaten und Fugen. Beengt und feucht und dunkel, kalt, wenn es draußen kalt, heiß, wenn es draußen heiß war. Ein Dachgeschoß, das Dach geblieben war, mit allem Leben und allem Sterben eines Dachstuhls, allen Erscheinungen eines Oberstübchens, dem Unvertrauten, Unverdauten, Unheimlichen.
Überall in meiner Wohnung waren Fliegen. Sommers wie winters. Das vor allem hat mich stutzig gemacht, so daß ich dem Phänomen auf den Grund zu gehen und die Nistplätze auszuheben suchte. Ohne Erfolg.
Ein Leben in Provisorien. Telefon-, Fernseh- und Stromkabel hingen von Decke und Wänden oder waren beiläufig in die Türrahmen genagelt worden. Ich habe zeitlebens nie auch nur einer Faser meines Wesens gestattet, Wurzeln zu schlagen. Nur in meinem Dachstübchen, in meiner Budaer Wohnung, habe ich getrachtet, so lange wie möglich auszuharren. Nicht weil ich einen Ort gesucht, nur weil ich einen gebraucht habe. Ich hatte mich in einem Provisorium eingerichtet. Die Beziehungen, die Wohnung, die Stadt, das Land, das ganze postsowjetische Leben: ein Provisorium. Wir haben uns selbst als Provisorium erschaffen, wir sind lau, in aller Maßlosigkeit mäßig, mittelmäßig, ohne Geschmack auf der Zunge. Das Leben als Hollandtomate.
Das also war der Kapitalismus. Zwanzig Sorten Kapern in der Dose. Und nicht eine, die man sich hätte leisten können. Wir verhungerten alphabetisch genau. Ich zeigte Großpapa die alten und neuen Orte: den Deák Tér mit seinen Notverkäuferinnen, seinen Berbern, den Schicksen und Bankern. Die Hypermarkets auf den Hügeln, von denen aus die Stadt beschossen worden war, von den Nazis und den Sowjets. Die Theresienstadt: jede ihrer Telefonzellen bewohnt von einer rubinroten Revolutionswitwe. Damals, 1956, als die Sowjets die Stadt mit ihren Panzern überrollten, waren sie herbeigeströmt und brachten Waffen, Suppen, böse wie gute Worte, die einen, um damit aufzustacheln, die anderen, um Mut zu machen, Mut zum Durchhalten. Siehst du die Rote, Großpapa? Nachts häkelt sie Mülltüten zu Touristenplunder, morgens rüstet sie sich mit vier Lagen Wäsche für den Deák Tér, zwölf Stunden auf den Stufen zur Untergrundbahn, und abends kehrt sie mit den anderen zurück zum Heldenplatz, weil sie allein nicht mehr stark genug wäre für die Blicke, die auf den blauen Tüten in ihren blauen Händen ruhen. In unseren Häusern machen wir alle Lichter an. Aus Angst vor der Zukunft. Vor den Geistern der Vergangenheit. Die im Dunkeln von den Teppichen herauf flüstern, ›Vergeßt uns nicht‹, und: ›Sind wir dafür gestorben?‹ Und manchmal, aber nur an Sonntagen, da singen sie sogar, ›Szomorú Vasárnap‹, trauriger Sonntag. Und sind nur zu übertönen mit Kossuth Rádió. Hörst du das, Großpapa?