Siehst du sie, fühlst du sie, Großpapa? Buda, die Schöne, die weint, als litte sie Zahnschmerzen. Der Wind kommt heute direkt aus Sibirien, Debrecen hat er passiert, hat darüberrasiert und ist doch nicht wärmer geworden, und jetzt rauscht er hämisch durch die Rákoczy und die Andrássy Út. Und wirft mit Regen.
Und dann und wann mit faulem Obst.
Ich hatte mich für ungarische Geschichte, Sprache und Literatur eingeschrieben, Großpapa. Ich kam gerade von der Uni, da sah ich diesen jungen Mann, dessen Kleidung nicht auf soziale oder psychische Deklassierung schließen ließ. Sah, wie er an der Andrássy stand und vorüberfahrende BMW und Mercedes mit Kirschen und matschigen Pflaumen bewarf. Dabei hatte er mäßigen Erfolg in der Trefferquote, nicht nur bei den viel zu kleinen Kirschen, und diese sportliche Niederlage war es, die mich sogleich für ihn einnahm. Ich beschloß, ihn mir aus der Nähe anzusehen. Ein unfaßbarer Bartigel. Halb Mensch, halb Teppich. Er heißt Gábor, Großpapa. Ich war ein wenig enttäuscht. István hätte man ihn nennen sollen.
Ich half ihm, den Rest des Obsts treffgenauer zu verteilen, schon bald mußten wir die Beine in die Hand nehmen. Wir jagten dem Café New York zu. Ausgerechnet. Das New York ist längst verkommen zur Touristenklitsche mit abgehalftertem Mobiliar, abgehalfterten Bedienungen und einem abgehalfterten Pianisten, der bei Songs jenseits der zwei Kreuze völlig aus dem Häuschen geriet und, so hoffe ich, irgendwann einmal zwei-, meinethalben auch vierhändig, vom Leben zum Tode gebracht werden wird.
Gábor bestellte Aprikosenschnaps. Barack. Nach jedem Schluck protestierte mein Magen: Das kann doch nicht dein Ernst sein, das kannst du doch nicht mögen?!
Er entstamme einer dieser Friedensgewinnlerfamilien, sagte er, liebe es, Mischungen aus Tokajer und Billigschnaps zu saufen, angerichtet in Tetrapaks (deutscher Orangensaft). Üblicherweise stelle er sich eine Notration neben das Bett, aus Angst, er könne aufwachen und verdursten (Kindheitstrauma: die Angst zu sterben, bevor man noch einmal einen langen letzten Schluck genommen hat).
So ungefähr das erste, was Gábor angestellt hatte, nachdem er freies Reiserecht genoß, war, nach Nepal zu fliegen. Schon als Kind hatte er sich in den Kopf gesetzt, einmal das Dach der Welt zu sehen, nicht immer nur ihre schlechtgetünchten Heizungskeller. Er arbeitete als Nachtportier in einem zweitklassigen Hotel und sparte sich den Rest vom Mund ab, soff folglich entweder weniger oder mehr. Mehr auf Rechnung des Hoteliers. Und dann traf er dort ein, und das einzige, was er von Nepal zu berichten wußte, war, daß die Nepali insgesamt recht kleine Menschen seien, deren Lieblingsbeschäftigung war, aus allen verfügbaren Gesichtsöffnungen gezielt auf die Straße zu rotzen. Was auch für Gábor keine solch riesige Angelegenheit gewesen wäre, hätte er dich, Großpapa, zu Lebzeiten gekannt.
Gábor war sich selbst immer neun bis zehn Schritte voraus. Natürlich: Jeder Mensch ist sich in seiner Entwicklung immer einen Schritt voraus, und die Erklärungen hinken hinterdrein. Doch bei Gábor waren es meist zehn Schritte, und die Erklärungen taumelten nur so. Seit dem ersten Semester feilte er an seiner Doktorarbeit, keine Ahnung, in welchem Fach, er studierte so ziemlich alles, was sich zeitlich mit seinen Jobs in Übereinstimmung bringen ließ, vielleicht war es Medizin, irgendwann war es Medizin, »die ultima ratio, das einzig Vernünftige für mich, für dich, für uns alle, alle sollten wir Medizin studieren, was sonst?! Streng genommen habe ich schon mein ganzes Leben lang nichts anderes getan als Medizin studiert, du auch, Alter, nur du, nur ich, nur wir alle haben es nicht gesehen und nicht verstanden, daß wir nämlich alle immer nur Medizin studieren. Prost!«
»Und laß es nicht wiederkommen!« Gábor half mir, in dieser Stadt, in diesem Land, in dieser Wüste mein Zelt aufzuschlagen. Er verriet mir die Namen der Hauptstädte der Welt, und ich ihm, wie man sich zwei Bananen auf einmal ins Maul steckte. Und sie aß, ohne daran zu ersticken.
Zwei- oder dreimal in der Woche besuchte ich ihn während seiner Nachtschicht im Hotel. Es war ein heruntergekommener Altbau in Terézváros, der früher Anderthalbzimmer-Mietwohnungen beherbergt hatte, mit braunem Resopal ausgekleidet, mit drei Türschlössern, einer volleingerichteten Gasküche und einem Trockenraum versehen. Wir saßen in der Lobby und paßten auf den Getränkeautomaten auf, den wilde Aussis und einsame Deutsche leerten. Wir spielten Schach bis zur Brötchenlieferung, die das Ende der Schicht ankündigte und für uns beide bedeutete, einen Abstecher in die morgendlich verschlafene Universität zu unternehmen. Um den Schlaf in der Vorlesung nachzuholen.
Es gab fast keine Tschigorin-Eröffnung, die Gábor verpatzt hätte, Großpapa. Er war Profi. Wenn er nicht gerade im Hotel, in der Uni oder im Obstladen war, fand ich ihn in den Eingängen der Pester Metrostationen beim Schachspiel mit Westlern. Wenn er wegen unbestechlicher Polizisten unterbrechen mußte (doch, die gab es!), steckte er seinem Gegenüber einen Zettel zu, der dem in fünf Sprachen erklärte (orthographisch ebenso wie grammatikalisch bedenklich), wo er ihn in zehn Minuten wiederfand. Brett, Figuren, die drei Klappstühlchen waren in Sekundenschnelle verpackt, dann hastete Gábor der nächsten Metrostation zu und bereitete die Partie vor, stellte die Spielkonstellation wieder her, by heart.
Selten waren sie, die Tage, an denen er niemanden zum Spielen fand. Selten, aber für Gábor umso entsetzlicher. Dann stierte er in die Luft, nahm mich, der ich mich ihm gegenübergesetzt hatte, oft erst nach Minuten wahr, erst, wenn ich laut mit Mittelfinger und Daumen vor seinen Augen zu schnippen begann.
»Was machst du?« fragte ich.
»Ich sitze und überlege, ob ich mich umbringen soll.«
»Fein. Und was machst du, wenn du’s nicht tust?«
»Einkaufen gehen. Ich brauch einen Fahrradschlauch. Kommst du mit, Alter?«
»Klar, was soll ich zuhause? Fliegen fangen?«
Nachdem er seine Wohngemeinschaft mit drei Musikern verlassen hatte, die hinlänglich erfolglos Schamanen-Punk spielten und daran verzweifelten, zu klingen wie die Rasenden Leichenbeschauer, die einzige ungarische Band von internationalem Format, kam Gábor im Haus seiner Großcousine Klára unter. Klärchen war eine alte Jungfer, die Tag und Nacht Werbesendungen sah, weil sie nicht mehr schlafen konnte, weil sie nicht mehr essen konnte, weil sie nicht mehr gut hörte, weil ihr die Zeit viel zu schnell geworden war und sie Angst hatte, einen Fuß vor die Tür zu setzen, auf die Straße, wo laut Fernsehen die Verbrecherbanden tobten.
Hin und wieder arrangierte es Gábor, daß ich bei ihnen übernachtete. Groß genug war ihr Haus, nah an der Universität gelegen, ich sparte mir den morgendlichen Hinweg. Und so spielte sich diese allmorgendliche Szene ab, mit Gábor (und mir) auf dem Treppenabsatz, unten, und der alten Dame in ihrem Wohn- und Schlafzimmer, oben.
Gábor öffnete die Tür, klimperte mit seinen Schlüsseln.
»Klärchen, ich geh dann mal, ja? Ist gleich halb zehn.«
»Bist du das, mein Junge?«
»Jaaa.«
»Du mußt gehen, es ist gleich halb zehn!«
»Jaaa.«
»Mach’s denn gut, mein Junge, mach’s gut, und grüß den Dings von mir, den anderen, na, den – Freund.«
»Mach ich, Klärchen.«
Ich schätze, Großcousine Klára und er hätten ein prima Liebespaar abgegeben. Sie verstanden sich blind. Und vor allem taub.
Gábors größtes Unglück war, daß das Geld nie ausreichte, um seinen Alkohol- und Dope-Konsum zu befriedigen. Abgesehen davon war das Leben in Ungarn so schweineteuer geworden, daß man sich kaum mit zwei regulären Jobs über Wasser halten konnte. Und Klára schickte sich an, eine langlebige alte Jungfer zu werden. Wir saßen über dem neunten oder zehnten Bier, die Aussis hatten längst aufgegeben, als Gábor eines Nachts herausplatzte: