»Mal angenommen, ich wollte an Klärchens Geld. Was würdest du mir raten?«
»Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie dringend ist es mit der Kohle?«
»Zehn ist dringend?«
»Zehn ist dringend.«
»Zwölf.«
»Verstehe. Mach sie kalt.«
»Mach sie kalt. Na klar. ›Heut hat sich einer aufgehängt, jetzt wird es Winter‹.«
Gábor liebte es, Petőfi zu zitieren, weiter war er in seinem Studium der ungarischen Literatur nicht gekommen. »Slowakische Klempner und sonstige Säufer« war der zweite Satz, den er auswendig konnte. Doch dieses Zitat ließ auf sich warten. Stattdessen fragte er mit niedlichem Gesichtsausdruck, dem eines ungarischen Siebenschläfermännchens:
»Nur wie?«
»Totschreien klappt nicht«, sagte ich, »also vielleicht – Elektrokution?«
Ich hatte tags zuvor in der Zeitung gelesen, daß die ungarische Polizei seit geraumer Zeit Schwierigkeiten hatte, bei Todesfällen nach Einwirkung mit elektrischem Strom zwischen Suizid und Unfall zu unterscheiden. Man war nachlässig geworden. Wir lebten in einem Land, in dem der Selbstmord zu den alltäglichen Läßlichkeiten gehörte. Wie Zähneputzen. Zähneputzen und Kaffeekochen. Es gab so viele Suizidfälle, daß sie nicht genügend Personal hatten, sie ordnungsgemäß zu untersuchen. Besonders seitdem der Staat die Kriminalpolizei marktwirtschaftlichen Sparzwängen untergeordnet hatte. Weshalb sollte es also nicht funktionieren, einen Mord so zu fingieren, daß er nach Suizid aussähe? Oder Unfall?
»Elektrokution. Aha. Soll ich mit dem Fernseher auf sie losgehen, Alter?«
»Fernseher ist unhandlich. Implodiert außerdem zu früh.«
Ich begann zu improvisieren.
»Es müßte etwas sein, das gut in der Hand liegt. Damit die Finger krampfen. Damit sie nicht mehr loslassen können. Ist Klärchen Linkshänderin?«
Gábor zuckte mit den Schultern.
»Sorg dafür, daß sie die Linke benutzen muß. Hau ihr am Vortag mit dem Schnitzelklopfer auf die Rechte, daß sie nichts mehr anfassen kann. Natürlich aus Versehen.«
»Natürlich.«
»Dann geht der Strom direkt zum Herzen.«
»Hör mal, Alter – «
»Du mußt dafür sorgen, daß die Sicherung nicht rausspringt, sonst kommt sie mit Herz-Rhythmus-Störungen davon und wird womöglich zum Pflegefall, das wäre erst recht lästig.«
»He Russe, du – «
»Ich bin Weißrusse.«
»He Weißrusse, du weißt aber schon, daß ich das jetzt nicht ernst gemeint habe, oder?«
Ich beugte mich weit über die Rezeption, stieß mit meiner Bierflasche die von Gábor an, so daß die beiden im Kontakt ein leises Plöng ertönen ließen, und sagte augenzwinkernd:
»Ich doch auch nicht, Gábor. Ich doch auch nicht.«
Zwei Jahre hatten wir so zugebracht. Uns durch die Prüfungen geschlichen, mehr auf krummen, denn auf geraden Wegen. Gábor empfahl mir, öfter einen Apfel zu essen. (Nicht allein der Vitamine wegen.) Wenn ihm das Geld ausging, half ich bereitwillig. Wenn mir der Mut ausging, half er. Und riet zu Kaffeepulver, auf eine halbe Zitrone gehäuft. (Nicht allein des Koffeins wegen).
Im dritten Jahr begann sich etwas an unserer Freundschaft zu verändern. Etwas in unser beider Leben begann sich zu verändern. Waren Gábors Obstschlachten seine Art gewesen, Dampf abzulassen, war es seine Art gewesen, dem neuen Budapest zu zeigen, wie sehr er es verabscheute, brütete er nun stundenlang auf dem Campus vor sich hin. Den Gedanken, sich seiner Großcousine zu entledigen, hatte er nicht aufgegriffen. Stattdessen sprach er immer häufiger davon, das Land verlassen, in den Westen gehen zu wollen. Er träumte von Deutschland. Von der Schweiz. Von einem Kaff namens Luxemburg, wo sie Geld fraßen und Geld schissen. Gábor war es wie dem Proktologen ergangen: Gewohnt, in Ärsche zu schauen, war ihm alles zum Arsch und jede Substanz unter seinen Augen zu Scheiße geworden. Und plötzlich schien er Gefallen daran zu finden.
Schwerer wog für mich, daß ich mit einem Mal nicht mehr der Held unseres kleinen Lebensromans war. Wir alle wollen doch die Protagonisten in unseren Geschichten sein, wir wollen, daß die anderen unsere Stellung respektieren und akzeptieren und sich mit ihren Nebenrollen abfinden. Doch nicht ich war es, bei dem man nun mit allem rechnen mußte, der sich den Anschein gab, stets auf dem Sprung zu sein, morgen ein Telegramm aus Deutschland, übermorgen eine Postkarte aus diesem goldenen Luxemburg zu schicken (falls es dort überhaupt so etwas wie Postkarten gäbe, Postkarten setzten ein anständiges Bildmotiv voraus, gefressenes Geld war keines). Ich spürte, wie sich alles in mir auf Distanz justierte. Weib, ich kenne ihn nicht. Mensch, ich bin’s nicht.
Immer seltener kam ich zu Besuch ins Hotel.
Auch Großpapa kam immer seltener zu Besuch. Als meine Kopfschmerzen einmal für Wochen ausblieben, fragte ich mich, wo er sich herumtrieb. Würde auch er die Huren heimsuchen in den Pester Vorstädten? Berge von unten, Bordelle von innen, Kirchen von außen. Oder hatte er sich das neue Gebäude, das an der Stelle seines Vaterhauses stand, als Ort für seinen Spuk auserkoren? Das wäre sicher kein Spaß, kein Spaß, in einem Baumarkt zwischen Vorschweißflansch und Estrichkleber zu spuken.
Im ganzen Land begann sich die Stimmung zu verändern. Die sogenannten Christkonservativen hatten versprochen, das heilige Ungarn wiederzuerrichten. Einer ihrer Staatssekretäre schwadronierte, die DNS der menschlichen Rasse weise zwei bis drei Drehungen auf, die der ungarischen dagegen neun, was mit der Drehzahl des vom Planeten Sirius auf die Erde strahlenden Lichts identisch sei. Aus dieser Tatsache resultiere der kosmische Ursprung der ungarischen Intelligenz, und darauf gehe die Auserwähltheit des ungarischen Volks zurück.
Ich staunte. Bislang hatte die heiligmäßige Instandsetzung Ungarns bedeutet, unwirtschaftliche Betriebe in den Konkurs zu fahren, so daß das neuentstandene Heer der Arbeitslosen von Ferencváros wilde Jagd auf alles machte, was nur entfernt nach Zigeuner aussah. Die Bordsteinkanten eigneten sich hervorragend, um Zahntrophäen zu gewinnen. Survival of the fittest. Die besten Springerstiefel waren immer noch die aus Deutschland.
Immer häufiger verschwieg ich, woher ich stammte. Die Abrechnung mit den Russen würde erst recht unerbittlich werden.
Budapest hatte mich an den Eiern gepackt. Ich hatte gehofft, einmal romantisch das Mann-Frau-Spiel spielen zu können. Fehlanzeige. Stattdessen Flatrate-Vögeln: Ich kannte die Pester Vorstädte. Flatrate-Fühlen: Ich kannte die dreifach gepiercte Zunge von Ilona, meiner Bäckereiverkäuferin. Die mit ihren Broten sprach. Die Angst um ihre Nasenschleimhäute hatte und Koks statt zu schnupfen ins Zahnfleisch rieb. Die auf Oralsex bestand und mir unsäglich auf die Nerven ging, mit ihrer Gebärdensprache in allesfaszinierendfindender Affektiertheit, wenn sie über Designkleider und Designkatzen monologisierte. Wir waren Ochs und Esel, in einem Pferch gelandet. Urbane Künstlichkeit 1994. Als die ersten Stare des Jahres gegen meine Dachgeschoßfenster donnerten, wurde Ilona mein Schlafplatz in der Stadtmitte. Eine kernige Line Koks vor dem Sex, eine perlende Line Zahnpasta danach. Hauptsache, das Maul war voll und eignete sich nicht zum Quatschen.
Das Ende bereitete sich auf einer Party vor. Als Gábor und ich im Studentenwohnheim anlangten, war das Gelage bereits in vollem Gang. Die ganze Stadt zog sich an schattige Plätzchen an der Donau zurück, nur wir flüchteten uns in die brackig werdende Hitze eines Kellers. Und dann auch noch ein Kostümfest!, dachte ich, als mein Blick auf Frösche und Ritter, auf Hitler und Schneeflöckchen fiel. Gábor hatte sich als Strauch verkleidet, als getrimmter Taxus. Bestimmt hatte er den ganzen Tag über in Klärchens Vorgarten gesessen und Grünzeug zurechtgeschnitten.
»Schnucki«, lobte ihn eine Fette, die sich in eine hellgrüne Elfen-Pelle gezwängt hatte und in einen Pfirsich biß, »dich stell ich in meinen Garten, was kostest du?«