Das Fruchtfleisch stand ihr bis zum Oberkiefer und der schimmernde Saft tropfte ihr auf das ausladend geschnittene Lätzchen.
»Greif zu«, antwortete Gábor, »wir sind so hoch verschuldet, ich kann mir mich schon lange nicht mehr leisten.«
»Und was stellst du dar?« fragte mich das Elfchen und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. Ich war, wie immer, in Schwarz gekleidet, aber ich hatte mir für den Anlaß zentimeterdick Kajal unter die Augen geschmiert.
»Ich? Ich bin der Antichrist.«
»Was du nicht sagst. Mach doch mal sowas wie ein Wunder!«
»Dafür bin ich nicht zuständig. Nur für Kartellbildung. Und die neoliberale Marktordnung.«
»Ihr zwei seid lustig«, sagte Elfchen und rang sich ein stimmloses Lachen ab, »deshalb dürft ihr hierbleiben.«
Gábor und ich trugen je einen Armvoll Bierflaschen an einen schmalen Stehtisch im hintersten Winkel des Kellerraums. Ich trank drei auf ex, holte Nachschub und beobachtete, wie von der Toilette her ein taufrisches blondes Gör weithin strahlend unserem Tischchen zuwinkte. Man sah ihr die Westlerin förmlich an. Über hüftengen Jeans trug sie ein bauchfreies Top. Bauchfrei war auch der Bauch, überflüssig zu erwähnen. Irgendwo in der Taille hatte sie sich einen beigefarbenen Pullover für die rauhen Sommernächte im europäischen Osten festgeknotet. Es sah aus, als umklammerte sie ein seekranker Biber. Ich fragte mich, ob ich gern mit dem Tier tauschen würde, als sie das Elfchen bei der Hand nahm und unserem Tisch entgegenführte.
»Das ist meine deutsche Freundin«, sagte sie gegen die Musik anschreiend. Ich verstand den Namen nicht. Sabine. Susanne. Sibylle. Sophie. Zu meiner großen Überraschung war Gábor so vertraut mit der Kleinen, daß er ihr zur Begrüßung erst sachte mit dem Zeigefinger die Nase stupste, dann stoßweise seine Zunge in ihren Rachen schob.
Deshalb hatte er derart darauf gedrängt, zu diesem Fest zu gehen! Sein neuester Plan bestand darin, sich eine Westlerin anzulachen, Ungarn zu verlassen, sich weiter erfolgreich um sein Leben herumzulavieren. Zwischen großer Liebe und großer Chance bestehe heutzutage ohnehin kein Unterschied mehr, sagte er mir wenige Tage zuvor. Dabei popelte er sich schwarze Wollfetzen aus dem Bauchnabel.
In dieser Welt begegnen sich nur noch Künstlichkeiten, dachte ich. Ein Künstliches setzt ein anderes aus sich heraus und hält es an, es ihm gleich zu tun. Das Leben aber spielt immer anderswo. Und beliebt zu würfeln.
Gábor und seine Kleine laberten in gebrochenem Englisch. Ich betrachtete dieses Wesen, heiß geritten von unschönen nervösen Tics. Da kreisten zehnfach beringte Fingerchen um- und ineinander und gebaren vage Gesten, die mit den Lauten einer fremden Sprache rangen. Oder mit dem Schrecken, sich zum ersten Mal in ihrem Leben vaterlos und mutterseelenallein eine fremde Großstadt mitsamt ihren Menschen und Männern entwirren zu müssen. Ganz gleich: ihr faserte die Sprache regelrecht durch zehnfach Beringtes, und sie hielt das Köpfchen immer rechts, immer ein wenig rechts, als hätte sie Angst, es könnte ihr in der Mitte festwachsen. Und doch schien sie mit allen Fasern ihres niedlichen Herzchens in der festen Überzeugung zu leben, Teil von alledem zu sein, zurecht hier, da oder dort zu sein, Kind ihrer durch und durch gutbürgerlichen Eltern, die tags gut äsen und nachts gut schlafen.
Gábor verließ uns mit einem Zeichen, das ich als das internationale Signal für »Ich-brauch-jetzt-dringend-was-Leckeres-zum-Kiffen« deutete. Es würde mindestens eine halbe Stunde dauern, bis er zurück wäre. Ich suchte Geistesabwesenheit vorzuschützen, mich hinter meinem eseligsten Gesicht zu verschanzen, aber es half nicht. Die Kleine rückte näher an mich heran. Ich bot ihr an, unser Gespräch in ihrer Muttersprache fortzusetzen. Ich bin seit der Volksschule in ihr unterrichtet worden, bin im Deutschen nicht weniger zuhause als in jeder anderen Sprache. Wahrscheinlich weil ich, ganz Weißrusse, in keiner Sprache wirklich zuhause bin.
»Wie gut ihr es habt«, sagte sie, das Köpfchen so schief, daß ich Angst hatte, es würde abknicken, »ich meine, ihr könnt hier ganz von vorn anfangen und braucht nicht den ganzen Scheiß mitzuschleifen.«
»Scheiß. Du meinst: Geschichte.«
»Mhm, naja, mein ich.«
»Du meinst also, die Ungarn hätten keine Geschichte?« »Keine Ahnung, nee. Aber ihr habt eben dieses ganze Zeug nicht gemacht, mit Judenverfolgung und so. Kollektivschuld und so. Meine Eltern sagen, man nimmt sich als Deutscher immer ins Ausland mit.«
»Potzblitz!«
Ich prostete ihr zu. Sie schien sich mit dem Strohhalm an ihrem Cocktailglas festsaugen zu wollen. Von Gábor war nichts zu sehen.
»Du sprichst ein lustiges Deutsch«, setzte sie wieder an.
»Danke, du auch.«
»Kommst du von hier?«
»Ich komme aus – «
»Toll.«
»Ja, das ist toll.«
»Darum beneide ich dich. Es muß doch toll sein, aus einer so tollen Stadt zu kommen.«
»Ganz toll, ja. Auch wenn dieser Teil der Stadt eine Geschichtsfälschung ist. Ein tolles Versehen. Aber Hauptstädte sind ja sowieso nur eine nichtrepräsentative Auswahl aus dem Landesspektrum. Außer wenn die Landflucht hier so weiter geht, dann ist Budapest wahrscheinlich die erste europäische Hauptstadt, die das ganze Land ist. Wenn sich die Stadt nicht vorher kollektiv umbringt, Amis, Aussis und Deutsche eingeschlossen.«
»Mhm. Du magst die Menschen nicht, oder?«
»Ich mag die Menschen, doch, ich mag die Menschen. Mein bester Freund ist einer. Leider ist er schon ziemlich lange weg, kann mich kaum mehr an ihn erinnern.«
»Mhm. Und was studierst du so?«
»Möchtest du hören, was die Ungarn mit den Juden gemacht haben, Kleines?«
Die Deutsche warf den Schrägkopf mit einem Mal bedenklich gegen die andere Seite hin und verabschiedete sich wortlos auf die Tanzfläche. Zurück blieb ein Geruch von frisch geschlagenem Buchenholz und Himbeeren.
Ich wußte, daß Gábor einem riskanten Geschmack zuneigte, aber daß jetzt auch hochgradig Magersüchtige darunterfielen? Bei den tanzähnlichen Verrenkungen, die ich ihm von meinem stillen Hochsitz abtrotzte, wurde ich das Gefühl nicht los, daß dieses Wesen mit seiner Dauerhungerkur seit dem dreizehnten Lebensjahr beschäftigt war. Mit einer Dauerhungerkur, und sonst nichts. Ich dachte an den Kick, den die Magersucht bieten soll. Ein deutsches Phänomen? War das Deutschland? Synchronautowäsche jeden Samstag von 15:30 bis 17:15 Uhr, dazu die Fußballergebnisse aus dem Radio, das war das Deutschlandbild, das mir das ungarische Fernsehen vermittelt hatte. Und jetzt Generationenmagersucht? War das etwa auch Kollektivschuld?
Gábor klopfte mir herzhaft auf den Rücken, seine rotgeäderten Augen verrieten, daß er die erste Welle des Stoffs hinter sich hatte.
»Worüber habt ihr euch unterhalten?«
»Unterhalten? Was meinst du denn damit?«
»Was denkst du, wiegt so eine halbe Portion?« fragte er, »ist die kostengünstig im Unterhalt? Oder macht sich das gar nicht bezahlt?«
»Ich würde mich eher fragen, ob sie ihren Kalorienrechner immer bei sich hat. Oder ob der Vater schuld ist oder doch die Mutter. Vernachlässigung oder Mißbrauch? Womöglich das Westfernsehen?«
Gábor schwieg. Offensichtlich war er zu breit, um etwas Überraschendes zu erwidern.
»Wie hast du sie eigentlich kennengelernt?«
»Beim Schach.«
»Die kann Schach spielen?«
»Spielen nicht direkt. Ich hatte mal wieder Kundschaft, Kiwis, glaube ich, jedenfalls total besoffen und dauernd auf der Verliererstraße. Von Minute zu Minute ist die Stimmung beschissener geworden, bis ich mein Brett eingeklappt und erklärt habe, daß ich für heute wegen der Schupo schließe. Und plötzlich haben diese wildgewordenen Typen begonnen, mich niederzuknüppeln.«