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»Und was hast du getan?«

»Bin niedergeknüppelt worden.«

»Gratuliere.«

»Und sie hat mich gefunden und aufgelesen.«

»Und verarztet? Du Glücksschwein! Und? Hast du sie schon gevögelt?«

»Nicht in dem Sinne.«

»Aber in jedem anderen, was?«

Zwischen dem Beginn und dem Ende eines langen Atemzugs stieß Gábor ein fast unhörbares Meckern der Zufriedenheit aus. Jetzt erst fiel mir ein rotes Mal auf, das er am Hals trug. Die kleine Vampirin!

Ich trank. Das Bier schäumte. Schäumte über. Beschäumte mich ganz und gar. Ich machte Anstrengungen, es von meiner Lederhose zu wischen, und befleckte mich, ganz und gar. Gábor schob mir sein holländisches Gesöff als Nachschub hin. Ich wußte, er würde jetzt nicht mehr viel trinken, nur noch einen oder zwei kiffen, sonst bekäme er nachher keinen mehr hoch.

»Und jetzt gehst du mit ihr nach Deutschland?«

»Die Chancen stehen gut.«

Gábor steckte sich eine Zigarette an, blies mir den Rauch direkt in die Nase.

»Mal Europa sehen«, sagte er, »das wäre schön.«

»Warte noch ein bißchen, dann kommt Europa hierher.«

Gábor, die halb erloschene Kippe schief im Mund, hob wie beschwörend beide Hände, dann die Arme, drehte sich nach rechts weg.

»Scheiße, wie oft hab ich das schon gehört. ›Wir waren lange genug Sibirien und die Mongolei, jetzt wollen wir wieder Paris sein und London.‹ Ich seh’s nicht, Alter, ich seh’s nicht.«

»Ich schon, Alter, ich seh’s, ganz deutlich.«

»Ach was, wir bekommen hier doch nur die Abfälle des Kapitalismus zu sehen. Man muß dorthin gehen, wo er sich so richtig suhlt. Ich meine: Du lebst doch auch nur von der Schacherei deines Vaters, aber ich – «

»Aber du vögelst nicht mit einer Deutschen. Gábor, das hättest du im Sozialismus auch schon haben können.«

Als wäre sie herbeiberufen worden. Das schweißnasse Köpflein schüttelnd kehrte die Deutsche an unseren Tisch zurück. Gábor schwang sich auf zu einem letzten Gedanken, bevor er sich wieder seiner kleinen Blutsaugerin überließ, mit Hals und Haut, Haut und Haar, so ganz und gar.

»Nee, ich will jetzt meinen Teil vom Kuchen, ich hab lang genug zurückgesteckt. Der ganze Osten lebt doch in dem Glauben, daß er nur endlich wachgeküßt werden müßte. Aber das ist Quatsch. Ungarn ist, wo man trotzdem weint, Alter. Ich wünsch dir noch viel Glück hier!«

Gábor verabschiedete sich, wußte nicht, ob er noch einmal vorbeischauen würde. Er schnäbelte seinem deutschen Himbeermäulchen hinterher. Ich steckte drei Flaschen Bier ein und verließ den Reigen. Zum Abschied zwinkerte mir ein schier endlos nach oben verlängertes Penis-Gesicht, das anstelle der Arme zwei pralle, mit Fellflicken beklebte Müllsäcke trug, zweideutig zu. Künstlichkeiten. In dieser Welt begegnen sich nur noch Künstlichkeiten.

Ich verwarf den Gedanken, zu Ilona zu gehen. Begierig saugte ich die schwere Nachtluft ein. Und ich schmeckte keine Erlösung darin, keine Befreiung. Noch nicht einmal Erleichterung. Einst, wenn ich mich recht erinnere, streifte ich zweck- und ziellos durch Budapest, weil allein dies Umherstreifen kathartisch war. Jetzt fand ich, von einem Ziel zum nächsten ziehend, immer auf einen Punkt hinzielend, der keine Linie für mein Leben wurde, nichts mehr darin. Es war keine Erleichterung. Noch nicht einmal mehr eine Erleichterung. Und vielleicht war das gut so. Ich hätte ebensogut irgendwo sein können, nirgendwo, zuhause, tot. Ich mußte versuchen, mich mit einem marodierenden Gefühl zu arrangieren. Lesarten des Seelischen: Der Weg, der mich in meine Wohnung, »nach Hause«, führen sollte, führte mich mitten hinein in eine Seelenlektüre.

Hinter der Türschwelle, in der Dunkelheit, der alte Szabó hatte sich noch immer nicht um das Licht im Hausaufgang gekümmert; vor dem zweiten Treppenabsatz strauchelte ich über einen metallenen Schuhabstreifer, fiel, schlug mit der Stirn gegen die nach oben führenden Stufen. Für einen langen Moment war mir, als müßte ich hier liegen bleiben. Eine Nachtwache. Auf Nachtwache für ein krankes und sterbenwollendes Tier, das Gábors Verrat nicht ertrug, das die Künstlichkeit nicht mehr ertrug. Buda, die Schöne, die in den letzten Zügen lag. Ich müßte still hier ruhen und mich nicht bewegen, damit auch sie sich nicht rührte, nicht schreckte und an ihren Wunden zerrte. Es war schon so viel Blut geflossen, Buda, meine Schöne. Die Aura wurde hell und heller, ich spürte, wie mich die Kopfschmerzen übermannten.

Dann sah ich Großpapa.

Er stieg die Treppe herab, ich roch den Aprikosenschnaps, einen Hauch von Salmiak.

»Djeduschka«, sagte ich, ich wußte, daß mir die Tränen über die Wangen liefen, viele kleine Alkoholtränchen, »hilfst du mir, Großpapa? Die Stadt: Sie stirbt mir unter den Händen weg. Wie lang er wohl währt, der Todeskampf von Städten?«

Teppiche im Paradies

Es war 7:15 Uhr. Draußen brütete die Hitze. Die »Tigerbrigade« in den orange-weiß gestreiften Westen zog an mir vorüber, die Müllmänner brüllten sich über kurze Entfernungen schmutzige Witze zu. Ungeheure Lastautos rasselten auf der sich für den Tag rüstenden Straße in Richtung des zwölften Bezirks. Bereite dich, sei wachsam, und sei bereit! Im Ostbahnhof drängten sich Menschentrauben vor den Schaltern. Eine Roma mit einem vielleicht zweijährigen Kind auf dem Arm ging bettelnd zwischen den Wartenden umher. Ihr Kleines schüttelte unablässig den Kopf. Ich trat auf die beiden zu, drückte der Mutter einen Tausendforint-Schein in die Hand. Sie starrten mich an. Dann nickte die Frau lächelnd, aber das Kleine schüttelte wieder nur den Kopf. Als wäre es zu wenig gewesen, zu wenig überzeugend, so leicht überzeugst du mich nicht, überzeugst du mich nicht davon, daß diese Welt nicht etwa zum Kopfschütteln ist. Ich begann selbst den Kopf zu schütteln. Hielt die Geste bis zum Schalter durch.

Wieder war es eine Todesnachricht, die mich »nach Hause« holte. Tanjas Brief war kurz. Ich wußte nicht, woher sie meine Adresse hatte, ich hatte sie weder ihr noch Alezja mitgeteilt, vielleicht hatte sie sie über das Studentensekretariat der Universität erfahren. Weil kein Telefon auf mich angemeldet war, war es der einzige Weg, Kontakt mit mir aufzunehmen. Als ich von der Post aus bei Tanjas Nachbarn anrief, was sich als schwierig herausstellte, noch immer war es aus technischen Gründen kaum möglich, eine Verbindung nach Belarus zu erhalten, muß mein Weißrussisch so fremd geklungen haben, daß man vorzeitig auflegte. Oder die Verbindung wurde irgendwo in den Waldkarpaten unterbrochen. Erst beim vierten Anruf gelang es mir, darum zu bitten, daß man Tatsiana oder Alezja herbeiholte. Nach dem siebten Anruf hatte ich Tanja endlich am Hörer, war ich fragmentarisch unterrichtet. Ich sagte:

»Ja, ich komme. Weiß noch nicht genau, wann, aber ich komme so schnell wie möglich.«

Wieder hatte ein Knacksen die Leitung unterbrochen, ich konnte davon ausgehen, daß sie nicht mehr gehört hatte als: »Ja, ich komme.«

Was im Grunde das war, was ich am wenigsten sagen wollte. Ich kann hier nicht so leicht weg. Ich muß mir einen Zug heraussuchen. Ich weiß nicht. Ich weiß nichts. Was soll ich bei euch? Das zu sagen riet mir mein Stolz. Riet mir mein Trotz. Doch meine Intuition hatte mir geraten, Budapest zu verlassen. Schließlich hielt mich hier nichts mehr. Stolz und Trotz und Intuition rangen miteinander. Ergebnislos. Am Ende entschied die Telefongesellschaft.

Ich sagte, ich würde kommen, und Tanja hörte: Ich werde kommen. Tanja, die am Telefon so flehentlich meinen Namen gesagt hatte, und ich hatte meinen Namen so lange nicht mehr flehentlich ausgesprochen gehört, meinen Namen, meinen eigentlichen Namen, Wasja, nicht Wasil, oder, wie die Ungarn mich nannten, »Waschi«, allen voran Gábor, der so sprachbegabt wie ein Zackelschaf war. So lange hatte ich diesen Namen aus diesem Mund nicht mehr gehört, und so lange nicht mehr mit dieser Stimme gesprochen, die heiser, atemlos, erregt klang, daß ich dem Ostbahnhof zustrebte, kaum hatte ich aufgelegt, oder vielmehr: kaum war ich unterbrochen worden, und einen Platz für den übernächsten Tag im übernächsten Zug nach Warschau reservierte.