An mich gewandt fuhr Alezja fort:
»Sie hat nicht studieren dürfen. ›Mädchen brauchen sowas nicht, wir sind ja schließlich nicht mehr in der Sowjetunion‹. Und irgendjemand mußte sich um die Kleine kümmern, als die Betschwester arbeiten ging.«
»Und warum hast du dir das gefallen lassen?« fragte ich Tanja. »Was hätte ich denn tun sollen?«
Sie sah mich irritiert an.
»Lesja hat sich kein bißchen um das Kind gekümmert. Irgendjemand mußte da sein.«
»Natürlich, schieb’s auf mich, Tanja. Weil du zu feige warst, das Maul aufzumachen.«
»Wir hatten kein Geld, die Kleine unterzubringen. Außerdem wäre sie todunglücklich geworden…«
»Ja«, sagte Alezja, drückte die Zigarette am Boden aus, ich sah, wie der Lippenstift, der am Filter klebte, nun ihre Finger verschmierte, »ja, erzähl deinem Neffen, was die Betschwester mit Marya veranstaltet hat. Ich muß gehen. Einer in dieser Familie muß schließlich das Geld nach Hause bringen.«
Marya hatte Großmama bei der Geburt eine Niere gekostet. Seither trug sie diese »Verantwortung«. Sie war bestrebt, unauffällig unter den Menschen zu bleiben, sich leise zu ducken, sich zu beugen, um nicht auch noch jemanden das Herz oder den Verstand zu kosten. Marya: die Nierenkosterin. Großmama hatte nicht verabsäumt, der Kleinen Tag für Tag die Sünde ihrer Geburt vorzuhalten, ihr Reue und Bußfertigkeit einzutrichtern. Tatsiana und Alezja tyrannisierte sie mit Verboten, schlug sie, wenn sie sich einen zu kurzen Rock anziehen wollten, verbot ihnen, sich mit Jungs zu treffen. Weil sie inzwischen von Alezja erfahren hatte, was der Großpapa mit ihr auf der Toilette getrieben hatte, traf es sie besonders hart. Sie gab ihr die Schuld daran, sperrte sie tagelang in ihrem Zimmer ein, bis die Lehrer vor der Tür standen, um Alezja abzuholen, bis die Lehrer mit der Polizei drohten, wenn Alezja nicht mehr pünktlich zur Schule käme, bis Großmama sie von der Schule nahm und zu Kaslou schickte, wo sie zwei Jahre lang putzte, bevor sie als Verkäuferin in einen Fleischerladen wechselte. Alezja hatte sich nicht das Haar geschnitten. Die Großma-ma hatte ihr eines Nachts die Unzucht der langen blonden Strähnen kupiert, mit dem Fischmesser, das sie den Tag über geschärft hatte. Wenigstens würde sie sie jetzt nicht mehr an den Haaren in die Kirche ziehen. Alles hatte ein Gutes.
Unter diesen Umständen war Tatsiana noch gut weggekommen. Wir saßen zuhause, hatten Wodka auf den Tisch gestellt.
Marya war in ihr Zimmer enteilt. Der Weihrauchgeruch benebelte mir noch immer die Sinne.
»Und wie geht es jetzt weiter bei euch?«
Tanja zuckte mit den Schultern.
»Ich schlage vor, ihr legt euch zuerst einmal ein Telefon zu. Es war abenteuerlich, euch zu erreichen.«
»Es war abenteuerlich, dich überhaupt ausfindig zu machen, Wasja.«
»Wann wirst du dein Medizinstudium beginnen?«
»Erst muß Marya aus dem Gröbsten raus sein.«
»Marya ist aus dem Gröbsten raus, sie kommt in die Schule.«
Tanja lächelte mitleidig.
»Marya wird nie aus dem Gröbsten raus sein. Du warst nicht da, Wasja, du hast das alles nicht erlebt.«
»Fahnenflucht, ich weiß, ich weiß.«
»Siehst du sie irgendwo, Wasja, siehst du Marya? Du siehst sie nicht. Sie hat Angst vor Fremden. Du bist ein Fremder für sie. Sie hat auch Angst vor Alezja. Manchmal hat sie sogar Angst vor mir. Ich höre sie nachts lange beten und weinen. Ein sechsjähriges Mädchen sollte nicht lange beten und schon gar nicht lange weinen müssen. Glaubst du, ein solches Kind kann man auf eine Ganztagsschule schicken? Glaubst du, wir könnten uns eine solche Schule überhaupt leisten?«
Ich bot Tatsiana meine Unterstützung an. Sie lehnte ab. (Aber ich ersann in den nächsten Wochen doch Mittel und Wege, ihr monatlich Geld anzuweisen, das sie nicht gut ablehnen konnte. Sie hat die vermeintlich »staatliche Unterstützung« nie hinterfragt.)
Am nächsten Morgen fand ich Tanja auf dem Sofa schlafend. Über meine stumme Betrachtung erwachte sie. Der Abdruck der Lehne, rot, auf ihrem Gesicht. Sie rieb sich die Augen, es war erst halb sechs.
»Um die Zeit? Was treibst du?« fragte sie verschlafen.
»Jetlag.«
Tanja fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, sie wusch sich mit trockenen Fingern.
»Ach, Wasja.«
»Keine Ahnung. Hab nicht mehr schlafen können. Dachte, ich geh ein bißchen spazieren.«
»Du kannst mir mit Marya helfen, wenn sie wach ist. Wenn sie sich helfen läßt von dir.«
Sie ließ sich nicht helfen. Ich ging spazieren.
Es war eine diffuse Nacht gewesen. Ich schlief sofort ein, schlief traumlos, drei, vier Stunden lang, dann erwachte ich und fand nicht mehr in den Schlaf zurück. Mein Bettzeug roch nach dem Kackruß, das ganze Haus roch nach der Tyrannei von Großmama. Und, merkwürdig, ich fühlte mich mitschuldig an dem, was geschehen war. Als hätte ich auf Tanjas Kosten studiert, als hätte ich ihr mit einem Mal etwas abzubitten, nicht umgekehrt. Meine Zeit in Budapest erschien mir wie eine verbrecherische Willkürtat, eine Zeitverschwendung, eine Vergeudung meiner Ressourcen, meiner finanziellen und geistigen Ressourcen. Und eben auch wie eine Fahnenflucht.
Wir sprachen den Tag hindurch, wir zersprachen den Tag: Tanja, Alezja und ich. Ich erzählte von Ungarn, von der Universität, davon, wie in Budapest Mobiltelefone die Welt zu regieren begonnen hatten, und man jedem Trottel, der zu Selbstgesprächen neigte, dazu riet, sich buntes Plastik mit herausstehenden Drähten ans Ohr zu halten, um nicht weiter aufzufallen. Ich erzählte von den Jugendbanden, die ganze Viertel kontrollierten, und davon, daß das Parlament auf der ehemaligen Mülldeponie erbaut wurde, so daß die Ungarn sagten: »Kein Wunder, daß unsere Geschichte im 20. Jahrhundert nur Dreck war!«
Von Großpapas Besuchen erzählte ich nicht.
Die Familie um uns herum war ausgelöscht, nimmt man einmal Onkel Janka aus, der sich seit Vaters Tod nur noch sporadisch hatte sehen lassen. Seine Geschäfte gingen schlecht, er kam, um Großmama um Geld zu bitten (oder, da ich einer Familie entstamme, in der man Bitten für Betteln hält, und deshalb von vornherein zum Befehlen neigt: um ihr Zahlungsanweisungen zu geben). Wir waren aufeinander geworfen, mehr als je zuvor. Wir gingen nach Draußen, auf die Suche, aber wir wandten uns doch immer wieder nach Drinnen, an diejenigen, die wir wirklich oder vermeintlich seit unserer Kinderzeit kannten.
Am frühen Abend schliefen Alezja und Marya auf dem Sofa ein.
»Ein seltener Anblick«, kommentierte Tanja, »das ist dein Verdienst.«
»Weil ich sie totgeredet habe?«
»Nein, weil du da bist. Einfach nur da.«
Tanja zog mich vors Haus. Es hatte merklich abgekühlt, Ostwind wehte. Sie hatte einen Tisch und zwei Stühle besorgt, um Veranda-Atmosphäre zu schaffen, und in der Tat, wäre mein Blick nicht auf Großpapas Schrottberg gefallen, ich hätte mich in einen Western versetzt gefühlt, Rock Hudson an der Seite von Julie Adams. Und war das nicht Tumbleweed, dort, in der Ferne?
Tanja zündete sich eine Zigarette an, rauchte sie in schnellen Zügen, dann drückte sie sie in einem kleinen Blechaschenbecher aus, dessen leichtere Seite immer wieder von der Tischoberfläche sprang und beim Wiederaufkommen ohrenbetäubend schepperte.
»Du bist die lauteste Raucherin, die ich kenne.«
»Und wahrscheinlich auch die hastigste.«
Sie hatte sich zu einer Feierabend-Kettenraucherin entwikkelt. In einem Zeitraum von zwei oder drei Stunden, kaum daß Marya im Bett war, qualmte sie die Kippen eines ganzen Tages. Zwischendurch brannte sie sich mit der Glut Mückenstiche aus.
»Warum bist du nie nach Hause gekommen, Wasja?«
»Weil die Zugfahrt von Budapest schier endlos ist.«
»Ich meine die Zeit im Internat.«
Ich suchte, keine Miene zu verziehen.
»Du hast keine Ahnung, wie es für mich war, Wasja, keine Ahnung.«