Und wäre ich nicht Stanislaus Freund, hätte auch keines der Mädchen aus der Schule je Notiz von mir genommen. So kennen sie mich als Liebesboten, stecken mir kleine, aus den Schulheften gerissene Zettel für ihn zu, aus denen ich, am Polentümpel sitzend, winzige Boote baue, um sie in die rauhe See ohne Wiederkehr zu schicken. Manchmal antworte ich für Stanislau. Ich bin geschickt im Antworten für andere, so geschickt, daß beide Seiten bis heute den Betrug nicht bemerkt haben. Stanislau wäre mir dankbar, wüßte er davon. Ich halte ihm den Rücken frei. Den Kopf. Die Seele. Die nach dem Tod seiner kleinen Schwester keinen Platz mehr für Mädchen hat.
Vielleicht lerne ich jetzt verstehen. Vielleicht werde ich wie Stanislau. Schließe mich zu Hause ein, bette mich unter Bücher. Erhoffe, erwarte von ihnen etwas. Antworten. Und schicke keine Boote mehr auf den Tümpel, der jetzt, ich arbeite die letzten Bitten um Verabredung von gestern ab, erste kleine Wasserringe zeigt. Dann überfallartiger Regen. Ein Krieg zwischen Himmel und Erde. Wie im Himmel. So auf Erden. Regen beugt sich nieder über die Landschaft, gerade so, als wollte er von ihr kosten. Ich laufe, harte lange Schritte auf den Ballen, ich übe meinen Antritt. Ein guter Leichtathlet hat nie Trainingspause.
Erst jetzt ist unser Haus zu einem Trauerhaus geworden, mit allem, was man sich ihm zugehörig denkt: Den Kindern ist es verboten, drinnen zu spielen, kein Wort, kein Laut, kein Tritt auf den Dielen. Nur die Großen poltern geschäftiger denn je durch den Korridor. Im Zimmer, in dem der Alte aufgebahrt liegt, ist es außerdem verboten zu sprechen. Sie haben ihn schweigend ausgezogen, ihn gewaschen und in seinen Sonntagsstaat gesteckt. Sie. Großmama, die zwischendurch der Kleinsten die Flasche gegeben, und Mutter, die hin und wieder verstohlen mit den Schultern gezuckt hat.
Es ist uns verboten, schnell durch den Flur zu jagen und die Töpfe zu schlagen, wenn wir das Essen ankündigen. Das ist jetzt Kindersache. Beim Essen selbst kein Unterschied: Schweigen, wie immer. Nur daß Vater nicht zischt, wenn man trotzdem zu sprechen wagt. Das übernimmt jetzt Großmama. Vater schüttelt nur den Kopf. Womit hat er diese Blagen verdient?
Wir Blagen stehlen uns heimlich ins Schlafzimmer der Großeltern, das uns ganz neu ist. Das gemeinsame Schlafzimmer, das kein Gemeinsam mehr kennt. Oder es noch nie gekannt hat. Außer zum Kindermachen. Der Raum ist in zwei exakt gleich große Sektoren geteilt, die man nur zu überschreiten wagte, wenn die eine Seite den Schnapsvorrat der anderen umbettete und die andere das Umgebettete wieder hervorsuchte, um es in der Kehle neu zu lagern. Um kein Spielverderber zu sein. Jedesmal mit dem gleichen Ernst bei der Sache. Schließlich hatte Großpapa die Regeln ja aufgestellt.
Ansonsten sahen sie sich wenig, sprachen sie wenig miteinander. Großmama hatte Kaslou. Großpapa hatte mich.
Und Alezja, die »Mittlere«. Mich zum Zuhören, sie, ihm dienstbar zu sein. Wenn er mal wieder mußte. Es falle ihm eben alles ein wenig schwer mit seinen achtzig Jahren. Mit dem steifen Rücken. Mit der großen runden Leber, die schuld war, daß er mußte, wenn er nicht wollte, und nicht konnte, wenn er mußte.
Und mit seinem Leiden. Hatte Angst, er komme ohne fremde Hilfe nicht mehr zu sich, die Zunge zwischen den Zähnen, die Stirn blutig gekratzt, dort an der Wand in dem engen Badezimmer. Wenn er mußte, folgte sie ihm stumm.
Weshalb Alezja, ich könne ihm doch helfen. Aber nein. Denn ich bin der Junge.
»Das ist nichts für Jungen«, sagt Großpapa und schenkt sich noch einen ein, bevor er sich auf den Weg macht.
»Das ist was für Jungen, Kleiner«, lacht er und läßt mich an der Flasche riechen. Heute nur riechen. Er war schon großzügiger. Aprikosenschnaps. Überdeckt nur wenig den Salmiakgeruch, den er wieder ausströmt. Deshalb wird es jetzt Zeit, Großpapa streicht Alezja über den Scheitel und läßt sich von uns aufhelfen, bis er mich augenzwinkernd zurückwinkt: Du weißt ja, nichts für Jungen.
Heimlich bin ich doch mitgegangen. Weil es so eng ist in dem Raum, den man vor einigen Jahren einfach nur mit einer Zwischenwand von der Küche abgetrennt hat, können sie die Tür nicht schließen. Alezja öffnet ihm die Hose, zerrt zugleich an ihr und an der verfilzten, feuchten Unterhose, zerrt sie ihm in die Kniekehlen, bis er »Halt!« ruft, denn er möchte noch Stoff spüren zwischen Oberschenkel und Toilettensitz, sonst wird’s gar zu arg im Winter. Dann stützt er sich mit der Linken gegen die Wand, seine Rechte sucht die Tochter, die, wenn er sich jetzt nach hinten sinken läßt, verzweifelt um Gleichgewicht bemüht den Arm nach vorn reißt, bis Großpapa auf den Sitz aufplumpst, ihr zunickt, »Geht schon« zischt, und an den ineinander zerknüllten Hosen zieht. Dann höre ich ihn laut stöhnen, leise fluchen. Eine Begleitmelodie. Immer im selben Tonfall. Es dauert, dauert lange, bis er Alezja wieder herbeizitiert. Sie befördert ihn unter Zuhilfenahme ihres Körpergewichts in den Stand, wischt ihm kurz zwischen die Beine und dreht ihn um, daß er vor dem Toilettenbecken steht. Großpapa brummelt. Alezja dürfe jetzt abschütteln. Und sie dürfe da auch ruhig mal dran ziehen, ja, feste ziehen, nach hinten, feste! Und wieder nach vorn, feste! Schließlich müsse sie sich daran gewöhnen. Als Mädchen.
Plötzlich weiß ich, weshalb Tatsiana, die doch die größere und kräftigere ist, nicht mehr mitgeht. Und ich bin ja der Junge. Ich muß mich nicht daran gewöhnen.
Großpapa, so sagte mir Rasou Jahre später in wodkaseliger Vertrautheit, habe eben schon immer… und nichts für ungut, das dürfe ja auch sein, das habe ja fast jeder Mann, gell, das dürfe man nicht vergessen, und er wolle damit ja auch nicht schlecht von ihm sprechen, der Großpapa sei ein feiner Kerl gewesen, ein wirklich ganz prima Kerl, vielleicht der beste Kerl im Städtchen, gell… eine Vorliebe habe er halt gehabt für »kleine Mädchen«. Sonst hätte er sich ja auch nie mit der Großmama eingelassen.
»Mußt mal rechnen, Wasja, Junge«, sagte er mit wichtigtuerischem Stirnrunzeln, »mußt mal rechnen, wie alt deine Großmutter war, als dein Vater zur Welt gekommen ist. Fünf-zehn war sie, gerade mal fünfzehn geworden.«
Aber so sei das eben, und nichts für ungut, gell, sa sdarouje, und daß es nicht wiederkomme!
Großpapas Totenzimmer. Sie haben große Kerzen zu seinen Füßen angesteckt, am Kopfende steht der wurmstichige alte Kellertisch, Kreuz, Weihwasserschale, Öllampe, in der Luft ein klebriger Rauch, »Kackruß, katholischer«, hat er dazu immer gesagt, aufbegehrt hätte er gegen diese Aufbahrung.
»Ich weiß, mein Gott lebt«, sagte Großmama, wenn sie die Wortwechsel mit ihm beenden wollte, und: »Na sicher«, antwortete der Alte, »fragt sich nur, wovon.«
Großpapas Totenzimmer. Zwei Rubelmünzen liegen dort, wo seine Augen waren. Wir Blagen stehlen uns heimlich in den Raum, der uns ganz neu ist. Alezja tastet sachte an den Rändern des Lakens, dann rücken ihre Finger dem Körper immer näher. Schließlich ziehen sie um ihn eine Spur in das Tuch. Berühren will sie ihn aber nicht mehr. Denn es ist nicht mehr ihr Papa, das haben ihr die Großen gesagt. Aber weshalb nicht, das haben sie ihr nicht gesagt. Sie sieht fragend zu mir auf. Ich sage: »Das letzte Hemd hat keine Taschen!«, dann: »Na, was soll’s?!« und kneife sie dabei in den Arm, ganz fest ins Fleisch. Einen Moment schwankt sie, soll sie weinen oder lachen, und dann toben wir drei doch durch das Zimmer, allen Verboten zum Trotz, so wild, daß das Öllämpchen auf dem Tisch erzittert und fast alle Kerzen ausgehen.
Bis die Großen wieder da sind von ihren Gängen, ihren »Formalitäten«. Das Radio wird angestellt. Die Stimme sagt beschwingt, der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe habe mit der »Europäischen Gemeinschaft« eine Erklärung über die Aufnahme offizieller Beziehungen unterzeichnet. Und schildert dann in elegischem Ton, wie unsere Nationalmannschaft nach einem kämpferischen Spiel das Finale bei der Fußballeuropameisterschaft in Deutschland verloren habe. Vater schüttelt den Kopf. Auch das noch. Weil das Radio unablässig brummt und knackst, schaltet er ab. Obwohl gleich seine Lieblingssendung kommt. Aber Respekt für den Alten muß schließlich sein. Der Alte. Der ihn unzählige Male geschlagen hat. Ins Gesicht. Mit dem Handrücken. Jefim Abramawitsch, mein Lauftrainer, meint, daß es für die Juden nichts Schlimmeres gebe, als mit dem Handrücken geschlagen zu werden. So schlägt der Herr den Knecht. Er schlägt ihn und treibt ihn vor sich her, treibt ihn von sich fort. Den ungehorsamen, den Kainssohn.