»Irgendwo auf dem Rücksitz müßte auch ein Alligator sein, oder?«
»Wenn er unter dem ganzen Krempel noch atmen kann.« Tanja begann zu suchen, dann zog sie abrupt die Hand zurück.
»Was ist?« fragte ich.
»Jetzt hat er mich gebissen.«
»Nicht so schlimm«, sagte ich, »solange es kein Komodowaran war. Es gibt nur ein Lebewesen auf der Welt, das seinen Biß überlebt hat.«
»Und das wäre?«
»Mein Freund Gábor aus Budapest.«
»Der hat den Bakterien-Cocktail im Speichel überlebt?«
»Ja.«
»Wie hat er das angestellt?«
»Fünf Jahre ungarische Musiker-WG.«
Tanja lächelte, tippte mir mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. Sie hatte inzwischen gefunden, was sie suchte und inhalierte den Rauch mit sichtlichem Vergnügen.
»Glaubst mir nicht, was? Du hättest die Wohnung sehen sollen.«
»Lieber nicht. Ich hol mir meine Resistenzen lieber über ganz normale Impfspritzen.«
Wir waren an einem Kriegsmonument angekommen, das sonntags nur so von Brautpaaren wimmelte, die Kränze niederlegten und sich rittlings auf einem Panzerrohr ablichten ließen, die Frauen mit Röcken, die stets ein wenig zu kurz waren. Oder zu lang. Jetzt, Freitagmittag, war der Platz wie ausgestorben. Ich stellte den Motor ab. Wir blieben im Auto sitzen. Tanja rauchte weiter, zeigte mir ihr Profil.
»Cola-Dosen. Erbsenbüchsen. Ein ganzes Survival-Pack. Du brauchst das Zeug nur, weil du schnell wieder weg sein möchtest, wenn es darauf ankommt, oder?«
Ich stützte mich auf das Lenkrad. Was ich jetzt am wenigsten erwartet hatte, war eine Grundsatzdiskussion.
»Vielleicht«, sagte ich, »ein guter Gast ist ein auf alles vorbereiteter Gast.«
»Du fühlst dich also zu Gast bei mir?«
»Ich bin überall nur zu Gast. Auch in meinem eigenen Leben.«
»Wie pathetisch! Und du glaubst nicht, daß das auch an dir liegt?«
Immer nur Gast sein, sagte der Großpapa, sei unser ungarisches Erbe, Punktum! Erst hatten die Europäer die Ungarn mitten im Nichts angesiedelt, dann hätten die Aftersozialisten es ihnen auch noch unmöglich gemacht, dieses Land zu verlassen. Was das für ein altes Nomadenvolk bedeute, ihm Ketten anzulegen? Den Untergang. Den Untergang in der Melancholie. Den Untergang im Suff. Ich soff nicht. Ich fuhr Auto. Ich nomadisierte wie meine Altvorderen.
»Was ist so schlecht daran? Ich tu nun mal nicht gern Sachen, die ich nicht gern tu. Die Lehre hab ich aus dem Internat. Ich muß wissen, daß ich gehen kann, wenn es mir irgendwo nicht gefällt.«
»Zum Beispieclass="underline" aus meinem Leben.«
»Zum Beispieclass="underline" aus dem Studentenwohnheim.«
»Das ist jetzt nicht dein Ernst. Du ziehst nicht schon das erste Mal um.«
»Das ist mein Ernst. Ich hab in Ungarn so lange allein gelebt, ich kann das Zimmer nicht mehr mit einem 18jährigen Möchtegern-Bisnessman teilen. Ich hab auch schon eine Wohnung, die Devisen machen’s möglich. Scheiße gelegen, klein, aber mein. Du solltest mich bei Gelegenheit besuchen kommen. Und zieh das kleine Schwarze an.«
Tanja schüttelte den Kopf, lachte empört auf, dann kurbelte sie die Scheibe herunter und warf die Kippe aus dem Auto. Sie hielt den Kopf ganz von mir abgewandt. Wir schwiegen. Ich sah, wie sich eine Träne, winzig klein, von ihren Wimpern löste. Dann hörte ich sie laut ausatmen:
»Was mach ich hier bloß? Ich weiß, daß ich darunter nur leiden werde. Das wird ein Schrecken ohne Ende. Was mach ich hier bloß?«
Ich nahm ihre Hand, küßte sie, jeden Finger, ich schmeckte Salz und Eisen auf meinen Lippen. Dann zog ich ihr Gesicht nah an meines und begann, das kleine Rinnsal zwischen Auge und Kinn mit der Nasenspitze entlangzufahren.
»Das glaubst du nicht wirklich, Tanja. Laß uns miteinander nicht mehr leiden als wir ohne einander gelitten haben. Jetzt nicht mehr.«
Als meine Lippen ihr Schlüsselbein entlangfuhren, hatte sie niedergerungen, womit sie kämpfte. Sie warf sich über mich, warf ihr Haar auf mich, wir zerrten an unseren Kleidern, als wären es Rüstungen, und das Scheppern der Blechdosen, die unsere Schuhe beiseite traten, war klingender Stahl. Wir öffneten die Visiere, wir sahen einander in die Augen, die ganze Zeit über, um uns zu vergewissern: Das bist du, Tanja, und das bist du, Wasja. Als ich ihr das Kleid herabzog, kuppelten wir versehentlich aus und rollten anderthalb Meter, bis wir wieder zum Stehen kamen, und Tanja, die noch immer auf mir saß, schlug mit dem Kopf so vehement gegen das Dach, bis sich dort ein kupferroter Schatten bildete. Ineinander verschlungen robbten wir dem Rücksitz zu, die Vordersitze ließen sich nicht klappen, ich war dankbar über meine halbwegs intakte Bauchmuskulatur, wir lagen nicht, wir standen nicht, es war eine Liegestütze, zweimal griff Tanja nach der Halteschlaufe über dem Rücksitz, und zweimal griff sie dabei in alte Bananenschalen. Im Gewimmel unserer Glieder hatte ich plötzlich Bilder von meinem Tauchgang vor Augen, selbst der Kopfschmerz klopfte einen Moment an meiner Schädeldecke, dann verhedderte sich meine Hose im Werkzeugkasten, ich stieß mir eine Zehe an einem Kugelgelenkabzieher blutig, und kam vorzeitig, meine Lippen fest auf Tanjas gepreßt. Was folgte, war Handarbeit, von ihr selbst dirigiert, eine leise Symphonie, wie mir schien, bis sie mich auf einmal mit schreckgeweiteten Pupillen ansah, zweimal laut aufstöhnte, und dann, meine Finger abwehrend, herumfuhr. Sie verkrallte sich in meinem Haar und zog meinen Kopf auf ihre Brust. Ich konnte Tanjas stoßweise gehenden Atem hören, die Zigaretten seufzten leise in den Bronchien nach, ich spürte ihr Herz, es schlug gegen meine Schläfe, oder es war meine Schläfe, die gegen ihr Herz pochte. Meine Zehen stocherten in einer kleinen Blutlache. Ich wußte nicht, was ich in diesen Augen gesehen hatte, in Tanjas Augen, bevor sie kam. Ich bekam Angst vor diesen Augen. Angst vor ihrer Angst. Vor dem, was sie erblickt haben mochte. Vielleicht war es ein Schrecken ohne Ende, der jetzt vor uns lag.
Als ich den Kopf hob, sah ich, daß sie eingenickt war. Ich blies ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Tanja lächelte flüchtig, dann ermunterte sie sich, sagte: »Scheiße, so eine Scheiße, die Kleine«, griff nach ihrem Kleid, und warf es sich rasch über.
»Ich fand’s auch schön«, hörte ich mich sagen, ihre nervöse Geschäftigkeit beleidigte mich. Tanja hauchte mir einen Kuß auf die Wange und rutschte auf den Fahrersitz.
»Laß mich ans Steuer, das geht jetzt schneller, du kannst deine Sachen während der Fahrt zusammensuchen.«
Das Visier war wieder unten, die Rüstung angetan, das Schwert gegürtet. Ich nickte. Von Überrumpelung konnte schon nicht mehr die Rede sein. Tanja hatte meine Burg genommen und übte Siegerjustiz.
»Gibst du mir eine Zigarette?«
Sie fuhr schnell. Bremste einige Male vor Einmündungen, an denen rechts oder links andere Autos standen, bremste so hart, daß ich, mühsam damit beschäftigt, in meine Hose zu kommen, mit den Ellenbogen gegen das Handschuhfach stieß, dann, als sie wieder anfuhr, in den Sitz zurückfiel. Mein Erstaunen, mein leiser Groll verflogen, ich mußte lachen.
»…kurz vor Hrodna ohne ersichtlichen Grund von der Fahrbahn abgekommen und tödlich verunglückt. Auf der Kleidung befanden sich noch Spermaspuren. Die Polizei ermittelt wegen Prostitution…« Tanja schien sich auf die Straße zu konzentrieren, sah angestrengt nach vorn, aufs Tacho, nach vorn. Wie aus dem Nichts fragte sie:
»Hattest du viele Frauen in Budapest?«
»Oh, verminte Zone. Frag nochmal, wenn ich selbst am Steuer sitze.«
»Sag schon.«
»Du meinst wegen Aids? Ich hab immer aufgepaßt. Gegenfrage: Hattest du viele Männer?«
»Viele? Nein, viele nicht.«
»Typische Fahrerantwort.«
Tanja schwieg.
»Kenn ich einen davon?«
Sie schwieg noch immer.
»Ist das eigentlich nach dem Gesetz verboten, was wir da gemacht haben?« fragte sie und schaltete zurück, wir waren in unserem Städtchen angelangt.