Stanislau holte tief Luft, dann setzte er hinterher:
»Falls du es immer noch nicht gemerkt hast: dein Großvater war ein ziemlich jämmerlicher Revoluzzer. So groß sind seine Fußstapfen gar nicht!«
»Du hast es nötig. Lieber mit dem Geist eines alten Revolutionärs rumlaufen als mit dem eines kleinen Mädchens.«
Ich sah zu Jadwihas Puppe hinüber, sie schien mir zuzunicken. Stanislau schluckte. Er trank. Schluckte. Dann sagte er sehr leise:
»Dein Großvater war ein Kadermann, Wasja. Mit allem Drumunddran. In den frühen Fünfzigern gab es ein paar Männer in unserem Städtchen, die verschwunden und nicht wieder aufgetaucht sind, nachdem er sie bei der Fünften Hauptverwaltung gemeldet hat.«
Ich sprang auf.
»Nie im Leben war Djeduschka ein KGB-Mann!«
»Nicht nach ’56, da hast du recht, Wasja.«
»Aber davor, was? Für jemanden wie ihn war der Sozialismus eine Herzensangelegenheit oder nichts.«
»Die Denunziationen waren vielleicht auch eine Herzensangelegenheit. Er dachte, er würde das Richtige tun.«
Ich hatte zwei Türriegel geöffnet, die Klinke schon in der Hand.
»Wasja, ich habe monatelang in Moskau recherchiert. Der Name deines Großvaters taucht mehr als einmal auf. Es tut mir leid. Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen.«
»Wahrlich, wahrlich, Stas, ich sage dir: ein Menschenfischer bist du nicht. Kein Wunder, daß ihr so wenig Erfolg habt, kein Wunder!«
Ich ließ die Tür offenstehen. Türenschlagen hätte mich nur erschreckt.
Auf dem Weg zurück kam ich am Präsidentenpalast vorbei. Vor den Absperrungen standen Frauen. Alte Frauen und junge Frauen. Sie hielten Fotovergrößerungen von Männern in der Hand, jungen Männern. Schwiegen. »Was ist mit meinem Sohn geschehen?« stand über ein Gesicht in roten Lettern geschrieben, »Wo ist mein Mann?« auf einem anderen. Ich dachte an eine Szene aus einem Musikvideo, das mir nicht mehr aus dem Kopf ging: Jemand versuchte angestrengt, mit dem Radiergummi eine Notiz auszulöschen, aber je vehementer er das Papier traktierte, desto schärfer wurde das Geschriebene.
Es war Wochenende. Ich wollte nach Hause. Wollte mit Tatsiana, wollte mit Rasou sprechen. Wenn irgendjemand wußte, ob Großpapa ein Tscheka-Mann war, dann er. Die Nachbarn würde ich meiden. Großpapa, er war der Mann des Städtchens, was würde man ihm nicht alles andichten!
Es war eine Katastrophe.
»Laß doch die alten Geschichten«, sagte Tanja, die alle Tage mit Nähen beschäftigt war, Marya hatte eine Rolle in einem Schultheaterstück über gesunde Ernährung bekommen, und nun mußte sie, Schritt für Schritt, in eine Karotte verwandelt werden. Rasou, der vor lauter Schweinebauch mit Sülze seit geraumer Zeit im Sterben lag, schwadronierte:
»Ein ganz feiner Mann war er, stark wie ein Baum, gegessen hat er für drei, wenn er wütend war, schwoll eine Zornesader, dick wie der Hinterlauf eines einjährigen Schweins, ich übertreibe kein bißchen, gell?! Schade, daß er aus dem Krieg nicht heimgekommen ist, dein Schwiegersohn.«
Ich tätschelte ihm den mit Einstichen übersäten Unterarm, verabschiedete mich. Ich war schon unter der Türschwelle, da rief er mir weinend hinterher:
»Dein Onkel Janka war das Schwein, Wasja, ich kann nichts dafür, wirklich nicht, ich hab nur gemacht, was er gesagt hat. Das mußt du verstehen, gell?!, er hatte mich in der Hand, ich hab ihnen gesagt, wo sie die Ikonen und das ganze andere Zeug finden, hab ja nicht gewußt, daß er gleich hingeht und sich totfährt und deine arme Mutter mit dazu, Wasja, das mußt du mir glauben, das hab ich nicht gewollt, ich hätte ihn von mir aus nie bei der Miliz verpfiffen, auch wenn er das Geld nicht fair geteilt hat, aber dein Onkel wollte es so, ich hab nur gemacht, was er gesagt hat, ich hab immer nur gemacht, was er gesagt hat, Wasja, das mußt du mir glauben, bitte, Wasja, bitte, ich will nicht sterben, mach, daß der Geist deines Vaters verschwindet…!«
Ich musterte meine Schuhspitzen, auf denen sich weiße Flecken vom Streusalz abzeichneten.
»Danke«, sagte ich, »und laß es nicht wiederkommen, Väterchen.«
Es war Sonntag. Ich mußte meine Stimme wider das Referendum abgeben. Ich wußte, es war chancenlos, die Unterstützung der Kleinstädter war dem Präsidenten sicher, aber ich mußte es wenigstens versuchen, das war ich meinem Großpapa, das war ich mir selbst schuldig.
Als ich aus dem Haus trat, kam mir Alezja entgegen. Ich hatte sie das ganze Wochenende noch nicht gesehen, grüßte im Vorübergehen, fragte ironisch, ob sie vom Wählen komme. Sie blies sich über das Gesicht, als wollte sie eine Strähne daraus entfernen (noch waren die Haare dafür nicht lang genug, auch wenn sie begonnen hatte, sie wieder wachsen zu lassen), dann kam sie ganz nah an mich heran, griff nach meinem Hemdkragen und zog mein Gesicht zu ihrem herunter. Alezja sprach leise und akzentuiert.
»Wasja, glaubst du, ich bin wirklich so blöd und merke nicht, was zwischen dir und Tanja läuft? Hallo??? Ich bin nicht Marya, ich bin nicht sieben Jahre alt.«
Ich packte ihre Hand, die sich ganz und gar im Stoff verkrallt hatte. Einen Moment rangen wir miteinander, dann verzog sie das Gesicht im Schmerz und ließ los. Mit bebenden Nüstern flüsterte sie:
»Marya könnte das vielleicht auch interessieren. Und die Nachbarn. Und erst deinen Minsker Freund.«
»Was willst du, Lesja?«
Sie sah zur Tür, sah wieder her, ihr Mittelfinger suchte sich zwischen zwei Knöpfen einen Weg unter mein Hemd. Sie grinste.
»Dich. Dich will ich.«
Das Ewig-Weibliche zieht uns hintan
Zuhause.
Tisch. Stuhl eins, Stuhl zwei, Bett, Rimbaud-Poster.
Zuhause.
Ich sah aus dem Fenster. Es war nicht anders als in Budapest: noch immer wurde mir dabei schwindlig. Die Häuser in unserem Städtchen hatten keine dritten Etagen.
Manche Männer hätten sich geschmeichelt gefühlt. Ich war schockstarr. Oder beinahe schockstarr. Ich wollte laufen. Eine der Bahnen am Universitätssportpark würde leer sein. Keine war leer. Ich wich auf den Weitsprunganlauf aus, die Anlage war bretthart nach den ersten Frostnächten. Ich sprintete zwanzigmal hin und her, ohne mich warmgemacht zu haben. Dann stellte sich ein schweres Muskelzittern am Oberschenkel ein. Ich ignorierte es, drehte noch sechs, sieben Runden auf der Vierhundertmeterbahn, dann knickte ich um, ließ mich an Ort und Stelle fallen.
Sollte ich mich auf Alezjas Spiel einlassen, um Schlimmeres zu verhindern? Mir konnte die Reaktion unserer Kleinstädter egal sein. Aber was würde mit Tanja, was mit Marya geschehen?
In meinem Oberschenkel spürte ich den Puls schlagen. Wie würde Tanja darauf reagieren? Schon um Maryas willen würde sie sich nichts antun. Sie hatte das Talent, sich zu opfern, sich und mich zu opfern, das stand fest, das wußte ich, seit ich im Internat war. Und ich war mir fast sicher, daß sie es wieder tun würde, vielleicht um Marya zu schützen, vielleicht sogar, um mich zu schützen, wovor auch immer, vor wem auch immer. Erwachsen würde sie vermutlich wieder einmal tun, und »ruhig« und »vernünftig« auf mich einsprechen: daß es das Beste sei für Manja, für Lesja, für mich, für sie, für uns alle, für das Land, wenn wir das beendeten, uns einige Zeit am besten gar nicht sähen, uns nicht mehr im Auto beglückten oder draußen hinterm Kriegerdenkmal oder, seltener, weil dort nur abgespielte Langeweiler-Filme liefen, in einer Kinotoilette in Hrodna.
Das Muskelzittern hatte nachgelassen, dafür krampften jetzt meine Waden. Ich stand umständlich auf und humpelte der Umkleidekabine zu.
Alezja. Unter welchen Umständen, wie rasch würde sie das Interesse an mir, an dieser Erpressung verlieren? Suchte ich vor unserem Treffen noch einmal das Gespräch mit ihr, um sie zum Einlenken zu bringen, würde sie erst recht darauf bestehen. Sie würde spüren, wie sehr mir an der Beziehung mit Tatsiana gelegen war. Sie würde nicht nur zustoßen mit dem Dolch, sie würde ihn in der Wunde umdrehen. Mehr als einmal.