Vorher ging gar nichts. Aber danach. Wenn ich sie dabei rücksichtslos behandelte? Wenn der Sex katastrophal wäre oder einfach nur lahm? Die Chancen, daß Alezja sich wieder zurückziehen würde, weil ihr das Spiel auf Dauer zu abgeschmackt wäre, standen gut. Daß sie uns zwingen würde, voneinander zu lassen, ohne irgendeinen eigenen Vorteil zu haben, das klang nicht nach Lesja.
Auf dem Nachhauseweg stand ich lange an einer Fußgängerampel. Auf der gegenüberliegenden Seite beobachtete ich, wie eine Krähe über einem Baum kreiste, aber ihre Kreise waren nicht horizontaler Natur, sondern vertikaler. Sie holte ein um das andere Mal zu einer Volte aus, entfernte sich, gewann an Höhe, stach wieder auf die Krone nieder. Als ich genauer hinsah, erkannte ich, wie sich im Astwerk ein Falke bewegte. Es sah aus, als würde die Krähe ihre Brut schützen. Spätlinge, dachte ich. Und dann dachte ich: Raben und Greife machen sich gegenseitig das Leben schwer, dabei sind sie wie von einer Familie. Sie müßten doch zusammenhalten.
»Donnerstag«, sagte sie am Telefon.
»Wo?«
»Bei dir.«
»Du willst nach Minsk kommen? In die Höhle des Löwen? Ich könnte dich hier erwürgen, niemand würde es mitbekommen.«
Alezja hatte bereits aufgelegt.
Ich konnte mir nicht vorstellen, daß dieser Donnerstag kommen würde, konnte mir nicht vorstellen, daß sie hier wirklich auftauchte. Ich sah mich den ganzen Tag zuhause vor der winzigen Glotze sitzen, ein ums andere Mal das Gesicht des Präsidenten wegschalten und ein Eishockeyspiel nach dem anderen ansehen, verzweifelt nach dem Scheißpuck suchend, bis alle Spiele aus und alle Bierflaschen leer wären, und ich, halb eins vorüber, das Licht ausschaltete, um im Dunkeln diesen Tag zu überdenken, still in mich hineinzulachen, daß Alezja es nicht gewagt haben würde, mich herauszufordern.
Ich träumte von einer Proviantkammer, in die man mich gesperrt hatte. Nachlässig hatte man mir Ketten angelegt, es gelang mir, sie abzustreifen, aber kaum lagen sie am Boden, spürte ich unter der Kleidung eine zweite Reihe Stahl, und darunter noch eine und noch eine, und die, die am engsten saß, war wie um mein Skelett gewunden.
Um halb acht am Morgen klingelte es Sturm. Sekundenlang mußte ich das schrille Geräusch in meinen Traum eingebaut haben, denn als ich erwachte, bereitete ich mich aufs Internatsfrühstück vor. Mit nachtverklebten Augen trottete ich der Tür entgegen, stolperte über Bücherstapel im Flur, ich korrigierte den Winkel meiner Morgenerektion, und öffnete.
Alezjas rechtes Bein ist ein wenig kürzer als das linke, deshalb ruht ihr ganzes Gewicht beim Stehen auf dem Rechten, dessen Knie sie durchstreckt, während sie das linke lässig nach vorn schiebt, einen spitzen Winkel bilden läßt. Es wippte ein wenig, der Fuß schien einen unhörbaren Rhythmus zu schlagen.
»Du spinnst ja«, entfuhr es mir.
»Laß uns ausgehen«, sagte sie.
»Ist deine Uhr kaputt oder dein Kopf, Lesja?«
»Jetzt zieh dir schon was an, ich warte hier, beeil dich.«
Sie fächelte sich Luft zu.
»Und lüfte mal die Wohnung, das stinkt ja erbärmlich!«
Sie hatte es gewagt, ich hatte mich darauf eingelassen. Doch mit einem nächtlichen Überfallkommando hatte ich nicht gerechnet. Auch nicht damit, einen langen Einkaufsbummel vor mir zu haben oder Sehenswürdigkeiten mit ihr abzuarbeiten. Ich hatte keine Ahnung, wohin man um acht Uhr morgens ausgehen konnte. Alezja umso mehr. Es war also nicht das erste Mal, daß sie in Minsk war. Wenigstens die Sehenswürdigkeiten fielen weg.
Sie trug einen Jeansrock mit hohem Schlitz, dazu eine knallenge weiße Seidenbluse. Beides hatte ich auch an Tatsiana gesehen, nur fielen mir an Lesjas Modellen gleich die Etiketten auf. Es waren Westmarken. Natürlich waren es Westmarken.
Ich stand am Tresen eines Schnellrestaurants an, um Kaffee und einen Bananen-Shake zu holen. Ich sah die Blicke der Männer einen Moment zu lange auf Lesjas Brüsten, viel zu lange auf ihrem Po verweilen. Sie schnalzten leise mit den Zungen, sahen einander dabei herausfordernd an. Das Ewig-Weibliche zieht uns hintan. Das da war mein Tantchen, verstand das keiner, sah das keiner? Mein Tantchen, das sich mit Kartoffelzucker stopfte und verspundete, das nie älter als zwölf, höchstens dreizehn Jahre geworden war, auch wenn ihre Rundungen dem zu widersprechen schienen.
Und nicht zu vergessen: Es war mein Tantchen, das dabei war, mich zu erpressen. Ich kippte Zucker in den Kaffee, um die Bitterkeit in all dem zu überdecken.
Alezja war abhängig von Männern in ihrem Leben, oder von der Tatsache, daß Männer in ihrem Leben standen (meist irgendwo »herum«, sagte sie, meist standen sie erstmal irgendwie und irgendwo herum und starrten auf Hände oder Füße, nicht Lesjas: auf ihre eigenen). Sie hatte begonnen, ihre ganze Lebensweise auszurichten auf die Begegnung mit Männern, deshalb blieb sie tagelang aus, deshalb bekamen Tanja und ich sie selten zu Gesicht. Sie flirtete mit unglaublicher Geschicklichkeit über eine Entfernung und so viele Tische hinweg, daß es mir schwerfiel, auf diese Distanz auch nur ein Gesicht zu erkennen.
Was also wollte sie von mir ?
Oberhalb der Nase zeichnete sich auf ihrer Stirn eine Querfalte ab, als Verbindung zwischen den Augenbrauen, eine exakte Überbrückung von Braue zu Braue, als ich sie danach fragte.
»Ich dachte, wir hätten das geklärt«, antwortete sie, sog an einem Strohhalm, dann fuhr sie mit Daumen und Zeigefinger an der Wandung ihres Glases auf und ab. Sie grinste. Auf ihren Wangen sah ich, trotz der dichten Schminke, vereinzelt Sommersprossen aufscheinen, zwischen ihnen Hautporen, wie Molekülketten, Molekularmodelle. Vielleicht hatte sie so schnell abgenommen, daß ihre Gesichtshaut nicht mithalten konnte. Vielleicht war alles so schnell bei ihr gegangen, daß überhaupt nichts mithalten konnte.
Wir rasten von einem Geschäft ins nächste, Alezja immer einen oder zwei Schritte vor mir. Sie beurteilte Kleider und Schuhe nach den Markennamen, ich konnte mir nicht erklären, wie sie bei ihrem schmalen Lohn so viel Geld für diesen Kram aufwenden konnte; sie beschwerte sich, wenn sie zu langsam bedient wurde, sah her zu mir, forderte mich auf, sie zu verteidigen, ich hätte mein Schwert ziehen, den blasierten Drachen von Verkäuferinnen auf der Njamiha die Köpfe abschlagen und zur Warnung aller auf das Burgtor spießen sollen: Seht her, seht her, das geschieht, wenn ihr mein Tantchen nicht genugsam respektiert! Alezja wollte haben, wollte haben, wollte haben, und wollte nichts mehr mit sich machen lassen.
Als wir am frühen Abend zurückkamen, war ich am Ende, fiel auf mein Bett, schlief, hoffte, als ich erwachte, ich hätte die ganze Nacht geschlafen, aber es waren kaum zwei Stunden vergangen. Alezja saß am gedeckten Tisch, beobachtete mich, rief mich zu sich, war noch immer hellwach, ich fragte mich, ob sie sich zu all den Kleidern auch noch Koks leisten konnte, sie schenkte uns Wodka ein, reichte mir Fisch und Karotten, die sie zubereitet hatte, sie schenkte Wodka nach, sie wirkte aufgedreht, aufgekratzt, aber sie sprach nur wenig. Im Hintergrund lief der Fernseher, ein stummer Zeuge. Ich sah Promiboxen, sah, wie einem hippen Musiksendermoderator gerade von einem Literaturkritiker, der noch aus Sowjetzeiten stammte, ein linker Haken verpaßt wurde. Ich sah das Entsetzen in dem faltenfreien jungen Gesicht, sah das Blut aus der Nase schießen, sah es in der Zeitlupenwiederholung, in Großaufnahme.
Ich hatte das Bedürfnis, zu duschen, mich zu betrinken, doch ich sah ein, daß es nun nicht mehr zu ändern wäre, ich wollte es hinter mich, wollte es hinter uns bringen. Ich stand auf, trat vor sie hin und nahm ihren Kopf in beide Hände, strich ihre kurzen blonden Locken zurück. Lesjas Haar roch nach Rauch, nach Sandelholz, nach dem Talg der Kopfhaut. Ich küßte sie, erst seitlich neben, dann auf die Lippen. Schließlich wanderte meine Zunge in ihren Mundraum, dann arbeitete sie sich an ihr Schlüsselbein heran, sie glitt über den Hals ans Ohrläppchen, wo ich sie zurückzog und die Schneidezähne ansetzte, bis ich innehielt, um die Wirkung auf Alezjas Gesicht zu betrachten. Sie hielt die Augen geschlossen, den Mund einen Spalt geöffnet, sie wußte, was sich gehörte, sie probte das regelkonforme Vorspiel, und plötzlich überkam mich ein Lachanfall, ein konvulsivisches, kaum zu bändigendes Lachen, das Minuten anhielt, mich, mit der Wodkaflasche im Arm, auf das Bett warf. Zwischen den Lachstößen trank ich, um mich zu beruhigen, aber ich wurde nicht ruhiger, erst als meine Bauchmuskeln zu schmerzen begannen und ich noch einen und noch einen großen Schluck genommen hatte. Dann stand Alezja vor mir.