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Dann tauchte Alezja unter der Tür auf. Sie trug kniehohe braune Stiefel zu einem pinkfarbenen Minirock. Manja rollte die Augen.

»Du bist also gekommen?« fragte ich.

Alezja grinste breit.

»Du doch auch immer, oder etwa nicht?«

Sie grinste noch breiter.

»Wunderbar«, sagte sie mit einer Stimme, die drohte, in den Diskant zu fallen, »dann sind ja all deine Frauen versammelt.«

Als sie sich umdrehte, sah ich lange Laufmaschen an beiden Beinen. Es sah aus, als hätte jemand Pfeile gezeichnet, die direkt in ihren Unterleib mündeten.

Ich half Tanja in der Küche. Im Vorbeigehen suchte ihre Zunge meine Mundhöhle ab, sie fuhr mir durchs Haar, nicht ohne sich vorher vergewissert zu haben, daß niemand in Sichtweite war.

Ich bekam Kopfschmerzen.

Beim Silvesteressen ging Tanja so weit, mich ›Wasil‹ zu nennen, also beendete ich jeden Satz mit »Ergebensten Dank, Tatsiana Stafanauna«. Alezja schien vor Ironie und Bosheit zu platzen. Plötzlich zeigte sie eine Leidensmiene, rutschte unruhig von einer Seite des Stuhls auf die andere.

»Ich versteh das nicht. Seit Wochen hab ich Schmerzen beim Sitzen. Mein ganzer Arsch ist wund.«

Marya lachte laut heraus, Tatsiana warf ihren Löffel in die Suppe. Und Alezja sah mich unverwandt an.

»Du solltest auf die Bananen verzichten«, sagte ich, »und öfter mal einen Apfel essen.«

»Wahrscheinlich hast du recht, Wasja, sicher, du kennst dich mit dem weiblichen Körper gut aus.«

Tatsiana blickte befremdet von ihr zu mir, auf ihre Suppe, auf Manja, auf die Wanduhr. Noch über vier Stunden bis Mitternacht.

Alezja verabschiedete sich vor dem neuen Jahr, sie hatte den pinkfarbenen gegen einen grünen Minirock vertauscht. Die Laufmaschen behielt sie an. Zum Abschied steckte sie sich den Mittelfinger in den Mund, lutschte daran und legte ihn mir auf die Lippen. Tatsiana und Marya waren derweil mit der Fernsehuhr beschäftigt.

Ich hielt durch bis halb eins, erklärte, noch einmal raus zu müssen, setzte mich in mein Auto. Die Scheiben waren dick vereist, ließen kein Licht herein, die Innenbeleuchtung hielt eine Minute durch, dann flackerte sie und ging aus. Zu allem Überfluß würde ich morgen auch noch die Batterie aufladen müssen. Ich nahm eine der Migränetabletten aus der Notreserve des Handschuhfachs, zerbiß sie, kaute sie gut durch. Sie schmeckte nach Kölnischwasser. Ich schob Notreserve-Traubenzucker hinterher. Wieder Kölnischwasser. Stoffe, die wohl kaum darauf gewartet hatten, in meinem Handschuhfach vereinigt zu werden. Ich wartete eine halbe Stunde, die Blitze schon vor dem inneren Auge, und Großpapa wollte und wollte sich kein Stelldichein geben. Ich hätte ihn nach all den Jahren gern wieder einmal gesehen. Aber wahrscheinlich war er böse mit mir. Große Revolutionäre pimpern, ja, aber doch nicht ihre Tanten.

Dann übergab ich mich neben den Wagen. Ich schlief ein. Übergab mich wieder. Schlief wieder ein. Hätte mich Tanja nicht irgendwann aus dem Auto gezogen, mir eine Decke übergeworfen und mich ins Leben zurückgerieben, vermutlich wäre ich in der Silvesternacht erfroren. Was wäre uns alles erspart geblieben!

Mein dritter Unfall ereignete sich auf der Neujahrsfahrt, nicht mehr weit von Zuhause.

Zur Belohnung für meine Geduld wollte Tanja mit mir zwei Tage wegfahren. Nur wir beide, sie und ich. Alezja bliebe bei Marya (die arme Kleine!). Ich weiß nicht, was sie ihnen erzählt hatte. Je weniger ich wußte, desto weniger würden wir uns in Widersprüche verwickeln. Wir fuhren in Richtung der litauischen Grenze.

Ich war meiner Lebensretterin erstaunlich wenig dankbar. Erstaunlich, ja, ich verlangte von mir selbst mehr Dankbarkeit. Vielleicht auch mehr Zuneigung. Es wollte sich keine Freude einstellen über die gemeinsamen Tage. Es begann schon damit, daß sich Tanja über meinen Reibeisenbart beschwerte, ob ich nicht irgendwann einmal wieder vorhätte, mich zu rasieren. Ich wußte nicht, wovon sie sprach.

»Wundschubbern«, sagte sie, »ich bekomme noch Ausschlag von deinen Bartstoppeln.«

»Kann ich mir nicht vorstellen, so selten wie dein Gesicht an meinem schubbert.«

»Machst du jetzt mir daraus einen Vorwurf?«

Ich schwieg. Die Befremdung zwischen uns drohte umzuschlagen in Entfremdung. Tanja war zu klug, wie hätte sie nicht merken können, daß hinter meinem Verhalten eine andere Frau steckte?! Aber auf den Gedanken, daß es ihre Schwester sein könnte, wäre sie wohl, trotz der Auftritte der vergangenen Tage, nicht verfallen. Und ich mußte alles daran setzen, daß sie es auch nie tun würde. Irgendeine Andere hätte sie mir verziehen, wahrscheinlich hätte sie noch nicht einmal verlangt, daß ich die Affäre beende, wenn sie mir nur gut tue. Tatsianas Großmut schien unermeßlich. Aber die eigene Schwester, noch dazu diese, das wäre selbst für jemand wie sie unverzeihlich gewesen.

Wir fuhren, wir hielten, wir fuhren, wir hielten. Sie habe ja Verständnis dafür, daß ich an den Wochenenden ausbliebe, wenn ich an meiner Arbeit schreiben müsse, aber sie habe den Eindruck, daß sie einfach nicht mehr an mich herankomme. Und dann hatten wir seit Wochen nicht mehr miteinander geschlafen. Dahinter könne doch nur eine andere Frau stecken. Was ok sei, ich solle es nur sagen. Damit sie Bescheid wisse. Ich schwieg, ich wiegelte ab, ich wiegelte ab, ich wiegelte ab. Ich erklärte dies, ich erklärte das, ich erklärte alles. Lügen, oft genug wiederholt, gewinnen an erlebter Wahrheit.

»Aber wieso läßt du mich dann nicht mehr an dich heran. Du läßt mich nie an dich heran.«

Ich saß mit abgewandtem Gesicht, preßte den Hinterkopf mal stärker, mal weniger stark gegen die Kopfstütze.

»Wird sich das jemals ändern, Wasja?«

»Das fragst du den Schrecken ohne Ende. Wie soll’s denn für dich weitergehen?« Wir wußten beide, daß unsere Situation nur haltbar war, wenn sich etwas veränderte, wenn wir uns auf eine gemeinsame Zukunft vertrösten konnten. Glaubten wir wirklich daran, eine so lange Zeit hindurch? Wir mußten. Wir sprachen uns alle bekannten zeitlichen Wundheilungen zu: Wenn ich meine Arbeit geschrieben haben würde, wenn Alezja endlich ausgezogen, wenn Marya aus dem Gröbsten raus sein würde. (Aber was war das Gröbste bei einem Kind, das von seiner Mutter zu hören bekommen hatte, daß es eine Kannibalin sei und dann mit sechs Jahren Vollwaise wurde?)

War es Beharrungsvermögen? Nein. Wenn es etwas nicht war, dann das. Nicht bei mir, nicht bei meiner Ungeduld. Ich baute tatsächlich darauf, daß sich etwas an der Situation ändern würde, hoffte zumindest darauf, Alezja würde des Spiels überdrüssig werden, würde einen ganz normalen Freund finden. Ich selbst sah mich längst außerstande, etwas zu ändern. Nicht nur, weil sie mich in der Hand hatte. Eine ménage à trois ist Arbeit. Und zu einem nicht geringen Teil bloße Handarbeit. Diese Arbeit frißt alle Ressourcen. Die seelischen allemal.

Ich brachte das Auto am Straßenrand zum Stehen. Ich bremste so scharf, daß es Rollsplitt nach allen Seiten hagelte, dicke Körner schlugen im Unterboden ein. Dann stützte ich mich am Lenkrad ab. Weiter vorn am Straßenrand waren zwei Krähen damit beschäftigt, den Kadaver eines überfahrenen Hasen auszunehmen.

Tatsiana hielt meinen Kopf in beiden Händen, versuchte, ihn zu sich zu drehen, sie wollte mir in die Augen blicken. Und platzte plötzlich heraus: Sie habe Verständnis dafür, wenn ich dem eine normale Beziehung vorziehen würde.